Hagen: „La Bohème“, Giacomo Puccini

„La Bohème“ oder „Hänsel und Gretel“ sind in der Vorweihnachtszeit und Weihnachtszeit fester Bestandteil im Spielplan vieler nationaler und internationaler Opernhäuser. So auch in Hagen, wo die bittersüße Liebestragödie zwischen Mimi und Rodolfo, die am Weihnachtsabend in einer ärmlichen Pariser Mansarde ihren Anfang nimmt, nun in der Neuinszenierung von Holger Potocki wieder zu erleben ist.

© Volker Beushausen

Von weihnachtlichem Ambiente ist in der Hagener Inszenierung von Puccinis Dauerbrenner, einer der meistgespielten Opern überhaupt, indes nichts zu sehen. Kein Mansardenzimmer mit Blick über die Dächer von Paris, kein Zusammentreffen der Bohèmiens im Café Momus im Weihnachtstrubel des Quartier Latin warten auf das derart durch frühere Aufführungen konditionierte Publikum. Bei Potocki ist die Handlung weder an eine bestimmte Zeit noch an einen speziellen Ort gebunden. Er zeigt die alltägliche Geschichte zweier jugendlicher Menschen, wie sie sich überall und immer zutragen könnte. Lena Brexendorf (Bühne, Kostüme) siedelt dazu die erste Begegnung zwischen Mimi und Rodolfo auf einer Baustelle an. Die verarmten Bohèmiens haben auf dem dreistufigen Betonfußboden eines verlassenen Rohbaus ihr eher trostloses Quartier aufgeschlagen, dessen einziger Schmuck rostige Moniereisen bilden und wo eine einsame Holzkiste schon als Luxusmöbel gelten muss. Überall liegen Pappe und Papier herum, Schutz bietet nur eine Glasdecke mit einigen Neonröhren, die ziemlich verloren ohne jede Verankerung in der Luft schwebt. Angesichts der Fülle an Papier fragt man sich schon, warum Rodolfo die Seiten mit seiner Dichtung zum Verfeuern opfern muss.

Hier leben die u.a.  mit Jeans und Turnschuhen gekleideten  jungen Leute wie in einem Elfenbeinturm, genießen ganz offensichtlich trotz bitterster Armut ihr freiheitliches, durch keinerlei gesellschaftliche Regeln und Normen eingeschränktes Leben, das durch Mimis Eintreffen eine neue Mitspielerin erhält. In Hagen ist Mimi eine  kokette, durchaus selbstbewusste, gar nicht so fragile  junge Frau, die dem Schicksal gehörig auf die Sprünge hilft. Sie ist es, die vor dem „Anklopfen“ die Kerze selbst auslöscht, sie versteckt den Schlüssel, um das Zusammentreffen mit Rodolfo hinauszuzögern, sie legt ihre Hand auf die seine und initiiert damit die sich anbahnende Liebesbeziehung. Hans-Joachim Köster erschafft mit seiner kreativen Lichtregie trotz des eher trostlosen Ambientes eine fast schon romantische Atmosphäre, wobei die Lichtspiegelungen in der Glasdecke gute Dienste leisten.

© Volker Beushausen

Grellbunte Lichteffekte, eine Lichtinstallation in Form von spiralenförmigen und verschlungenen Leuchtzeichen, einige Laternen,  aufwändige Kostüme und Perücken, eine gleichgekleidete Kinderschar in buntem, futuristischem Outfit, verschiebbare Regalelemente am rechten und linken Bühnenrand, ein schwarzer Tisch und eine schwarze Sitzbank und der Wechsel zwischen verschiedenen Bühnenlichtschattierungen zaubern im zweiten Bild eine varietéhafte Atmosphäre hervor, die so gar nicht das bevorstehende Unheil ahnen lässt. Der Einbruch der schmerzlichen Realität in diese Welt der unbefangenen Bohème wird im 3. Bild eindrucksvoll schon durch die Kostüme zum Ausdruck gebracht. Anstelle der Marktweiber, Händler und  Zöllner bevölkern schwarz gekleidete, maskenhafte Figuren mit z.T. hohen pechschwarzen Zylindern wie Vorboten des nahenden Unheils die Szenerie. Mimi trägt nicht mehr das grüne, hoffnungsfrohe Kleid der ersten Begegnung mit Rodolfo, sondern einen langen erdfarbenen Mantel. Allein Marcellos abstraktes Gemälde, das er ganz zu Beginn der Handlung in bunten Farben gemalt hat und das nun vor dem Eingang zu dem nur mit einem Stangengerüst angedeuteten Wirtshaus steht, erinnert an bessere Zeiten.

Im letzten Bild befinden wir uns wieder in der Baustelle des ersten Bildes. Allerdings ist die feste Bodenplatte des Rohbaus nun in mehrere Teile zerbrochen, ein sinnfälliges Symbol dafür, dass sich die jungen Leute der Wirklichkeit stellen müssen, die in Form von Mimis Tod ihr Leben grundlegend verändert. Das Inszenierungs- und Regiekonzept Potockis mag den traditionellen Opernbesuchern vielleicht etwas die Stirne runzeln lassen, ist aber in sich stimmig und nimmt vor allem durch die intensive, z.T. berührende Personenführung für sich ein.

Gespielt und gesungen wird in dieser „Bohème“ in Hagen ganz ausgezeichnet. Die weißrussische Sopranistin Anna Pisareva bleibt der Partie der Mimi nichts schuldig. Sie spielt nicht nur ergreifend, sondern singt mit einer Klangschönheit, einer durch alle Register mühelos flutenden warmtimbrierten Stimme, die einem wirklich unter die Haut geht. Modulation und Differenziertheit des Ausdrucks zeichnen ihren Vortrag aus. Man kann Anna Pisareva  zu ihrer Leistung an diesem Abend nur beglückwünschen.

Der junge südkoreanische Tenor Jongwoo Kim, Ensemblemitglied im Theater Erfurt, steht seiner Partnerin  kaum nach. Wenn auch das hohe C in seiner berühmten Arie „Che gelida manina“ etwas wackelte, so verfügt er doch über eine ansonsten sehr höhensichere, strahlende Tenorstimme, die auch in der Mittellage wunderbar einschwingt. Wenn auch die Pianotöne noch selbstverständlicher gelingen, dann wächst hier ein  lyrischer Tenor heran, der auch an größeren Häusern seinen Weg gehen wird.

© Volker Beushausen

Insu Hwang als Marcello konnte ebenfalls schauspielerisch und sängerisch voll überzeugen, Mercy Malieloa als quirlige Musetta, Dong-Won Seo als warmherziger Colline mit balsamisch gesungener Mantelarie, Mario Klein als Benoit und Alcindoro sowie Kenneth Mattice als Schaunard komplettierten ein Bohème-Ensemble, das wirklich helle Freude bereitete.

Ein Lob auch für das Philharmonische Orchester Hagen, das unter der umsichtigen Leitung von Joseph Trafton die herrliche Musik Puccinis in den verschiedensten Farben leuchten ließ. Chor, Extrachor und Kinderchor des Theaters Hagen machten ebenfalls ihre Sache ganz ausgezeichnet.

Das Publikum feierte alle Künstlerinnen und Künstler mit langanhaltendem Beifall. Er schwoll besonders dann an, wenn Anna Pisareva, Jongwoo Kim und Insu Hwang vor den Vorhang traten. Und dies war mehr als verdient!

Fazit: Auch Weihnachtsambiente lohnt diese Bohème in der Vorweihnachtszeit sehr!

20. November 2023 Norbert Pabelick


La Bohème
Giacomo Puccini

Theater Hagen
Premiere: 18. November 2023

Inszenierung: Holger Potocki
Musikalische Leitung: Joseph Trafton
Philharmonisches Orchester Hagen
Chor und Extrachor des Theaters Hagen/Kinderchor des Theaters Hagen

Nächste Aufführungen: 24. November/6. und 13. Dezember 2023