Szenisch schwierige Oper, in Hagen aber dicht und atmosphärisch
Das Theater Hagen lebt derzeit in Ungewissheit angesichts finanzieller Unwägbarkeiten. Intendant Norbert Hilchenbach wird (altersbedingt) gehen, GMD Florian Ludwig ebenfalls. Gemeinsam erarbeitet man am Ende der Spielzeit aber noch HK Grubers „Geschichten aus dem Wienerwald“, was zusammen mit der Uraufführung von Ludger Vollmers „Tschick“ im März demonstriert, wie sehr sich das Haus immer wieder auch zeitgenössischem Opernschaffen öffnet. Das und auch anderes an Engagement macht einem dieses Theater so sympathisch. Jetzt aber kamen die Melomanen unter den Opernfreunden wieder einmal auf ihre Kosten: nach gut einem Vierteljahrhundert stand Donizettis „Lucia di Lammermoor“ auf dem Programm. Diese Oper wählt man in der Regel nur, wenn eine besondere Sängerin vorhanden ist. In Hagen steht sie mit Cristina Piccardi zur Verfügung.
Die junge Brasilianerin verfügt über alle notwendigen Raffinements für die „Wahnsinns-Person“: superbe Höhe, sensible Kantilene, perfekte Staccati, saubere Triller. Weiterhin überzeugt sie mit Aussehen und Spiel. Das Hagener Premierenpublikum feierte die Jung-Primadonna ausgiebig und sparte auch sonst nicht mit Beifall, zu Recht. Er galt aber wesentlich auch dem jungen estnischen Dirigenten Mihhail Gerts (seit kurzem 1. Kapellmeister des Hauses), welcher mit dem Philharmonischen Orchester Hagen Donizettis Musik sensibel umsetzte, aber auch ihr dramatisches Heißblut nicht vernachlässigte. Dass es in der Hörnergruppe schon mal kleine Probleme gab, sei der Gerechtigkeit halber erwähnt, aber nicht überbewertet. Auch der verstärkte Chor (Wolfgang Müller-Salow) trug zum musikalischen Hochniveau des Abends bei.
Als selbstgenügsames Belcanto-Ereignis möchte man „Lucia“ heutzutage nicht mehr akzeptieren. Immer wieder also die Frage: wie geht man inszenatorisch mit einer Oper um, bei der virtuos-schöner Gesang im Vordergrund steht und moderne Handlungspsychologie eine eher zweitrangige Rolle spielt? Die vom Rezensenten zuletzt erlebten Produktionen versuchten es mit der Wahl einer Nervenheilanstalt als Ort des Geschehens (Bonn 11/2016, Inszenierung: David Alden, Koproduktion mit der English National Opera) bzw. durch Verlagerung in die Zeit des Dritten Reiches (ein halbes Jahr zuvor in Köln, Eva-Maria Höckmayrs Regie berief sich überzeugend auf historische Vorgänge).
Thomas Weber-Schallauer legt es in Hagen, wo er regelmäßig arbeitet, nicht auf ein spektakuläres Zeit- bzw. Ortstransfer an, setzt sich als Regisseur auch nicht selbstverliebt in Szene. Man könnte seine Arbeit also als gediegen bezeichnen, wäre das Wort nicht so ungünstig negativ belastet. Die erste positive visuelle Eindruck kommt ohnehin von Ausstatter Jan Bammes: rückwärtige Reliefwand, seitliche „klassizistische“ Portalsäulen, ein quaderartig unterteilter Plafond mit variabel zu nutzenden Leuchten, dazu sparsames Mobiliar. Dominierende Farbe ist Grau. Die Kostüme von Christiane Luz signalisieren zeitlose Moderne.
In diesem weitgehend überzeugenden Ambiente führt Weber-Schallauer Regie, ohne das Sujet vordergründig oder plakativ neu beleuchten zu wollen. Aber er setzt intelligente Akzente. So bekommt die Figur des religiös eifernden, ständig aufdringlich mit seinem Kruzifix hantierenden Raimondo neue Beleuchtung (auch dank der dringlichen Darstellung durch Rainer Zaun), Psychologisch besonders reich ist die Figur Enricos gezeichnet. Er ist zweifelsohne ein Intrigant, aber kein bloßer Brutalo, seiner Schwester Lucia in wechselvoller Emotionalität auch eindeutig zugetan (ohne inzestuöse Konturen wie in Köln). Seine Untaten erklären sich aus starker familiärer Verpflichtung. Sie sind sicher nicht entschuldbar, aber doch nachzuvollziehen. Nicht ganz leuchtet das Finale der Inszenierung ein. Enrico sieht mit dem Tode Edgardos (erstochen durch Normanno, bestens besetzt mit Matthew Overmeyer) seinen Status nicht länger gefährdet, bleibt dann aber im Hintergrund sitzen, eine Pistole in der Hand. Doch noch Gewissensbisse?
Von der Regie wird Alisa (negativ) aufgewertet, im Libretto unscheinbar als „Vertraute“ klassifiziert. Kristine Larissa Funkhauser spielt hingegen die heimliche Aufseherin, macht sich ständig Notizen über ihre Schutzbefohlene und gibt die Aufzeichnungen nach oben weiter. Auch sorgen zwei „Krankenschwestern“ u.a. mit Fesselungen dafür, dass Lucias unberechenbares Verhalten in Zaum gehalten wird. Und Raimondo predigt ständig gotteshörig auf sie ein. In diesem Umfeld hat Lucias Liebe zum Familienfeind Edgardo wahrhaft keine Chance. Glänzend bebildert auch die geschäftsmäßig abgewickelte Hochzeit mit dem seine gesellschaftliche Entwicklung kühl kalkulierenden Arturo. Nachdrückliches Kompliment für diese stimmige Hagener Produktion; sie belässt (bei gelegentlichen Verlegenheiten – Introduktionschor, Sextett) der Musik ihre Vorrechte, ohne deswegen beiläufig zu wirken.
Den Enrico umreißt der virile Kenneth Mattice mit glutvoller Emphase. Ein dezidierter Belcanto-Sänger ist er mit seiner eher kantigen Stimme freilich nicht, ebenso wenig wie Kajia Xiong. Als Edgardo könnte ihn Peter Aisher (Gast vom Düsseldorfer Opernstudio) mit seinem lyrisch angenehm fließendem Organ ohne weiteres überrunden. Aber der chinesische Tenor bietet engagierten Gesang und ist nicht zuletzt eine starke Bühnenpersönlichkeit. Die Liebesszenen mit Lucia beispielsweise wirken plausibel, wie man es anderswo nur selten sieht.
Ein Schlusswort zur Musik. Alle in diesem Bericht angesprochenen „Lucia“-Aufführungen benutz(t)en in der Wahnsinns-Szene eine Glasharmonika, wie von Donizetti nicht grundlos vorgesehen. Gegenüber Köln und Bonn wirkt dieses exotische Instrument in der Akustik des kleinen Hagener Hauses besonders plastisch. Man erlebt tatsächlich so etwas wie Sphärenmusik.
Christoph Zimmermann 22.1.2017
Bilder (c) Theater Hagen