Hagen: „Le nozze di Figaro“

Besuchte Zweitvorstellung: 14. 10.2016

Wahrhaft ein „folle journée“

Die Programmhefte führen erfreulicherweise Buch: zuletzt war Mozarts „Figaro“ in Hagen 2004 zu sehen. Bei dieser repertoirefesten Oper gilt halt ein ständiges Wiederholungs-Muss. Ähnliches gilt für de „Zauberfllöte“, welche eine Inszenierung durch die „Figaro“-Regisseurin Annette Wolf in der letzten Saison erlebte und jetzt in Abständen wieder gezeigt wird. Bei „Figaro“ erfreut zunächst, was Florian Ludwig mit dem Philharmonischen Orchester Hagen hören lässt. Er dirigiert tempoflott, mit Hervorhebung koloristischer Details (z.B. Holzbläserläufe am Schluss der Ouvertüre). Einige Begleitformulierungen geraten akustisch vielleicht schon mal etwas vordergründig, aber immer ist Mozart-Nähe zu spüren. Der durchgehende Esprit dieser Interpretation wurde in der besuchten zweiten Vorstellung (leider erst zwei Wochen nach der Premiere) vom Publikum merklich mit besonderem Beifall honoriert.

Annette Wolf hat in Hagen schon verschiedentlich gearbeitet, ähnlich übrigens wie Roman Hovenbitzer, der aber mehr für zeitgenössische Werke geholt wird. Annette Wolf stellt die vielschichtige und deshalb zu inszenatorischen Extravaganzen durchaus einladende „Figaro“-Komödie nicht auf den Kopf, färbt sie aber im Detail neu ein, im Verein mit der Ausstatterin Imme Kachel. Traditionelles Rokoko findet sich im Mobiliar, die gestreift tapezierten Wände (welche sich im dritten Akt zu einer Kulissenbühne formen) sind schon mehr Biedermeier, die Kostüme mäandern durch die Zeiten, wobei Susannas Rüschenkleid auf Spaniens Mode verweist. Mit einem Auto inmitten grüner Kunstnatur ist man final in der Jetztzeit angekommen. Das alles besitzt optischen Witz und muss nicht einem strengen „warum gerade so?“ unterworfen werden.

Die Inszenierung nimmt den Titel des Schauspiel-Originals von Beaumarchais („La folle journée“) beim Wort und sorgt für ein quickes, wirbeliges Spiel, wobei mit erotischen Akzenten nicht gespart wird. So hat die Gräfin Almaviva (rote Blume im Haar!) noch recht viel von der Rossini-Rosina (auch ihr legerer Kontakt zu Figaro erinnert an vergangene Zeiten). In der – sagen wir mal – recht zugewandten Art, wie sie auf Cherubinos Avancen reagiert, ist sie ebenfalls noch etwas die Kokette von einst.

Auch der Graf hat sich Gefühle aus der Zeit bewahrt, als er Rosina den Hof machte. Ehejahre und vielleicht auch der höfische Betrieb haben die heiße Liebe von früher freilich abkühlen und nüchtern werden lassen, und mannesbedingte Geilheit lässt sich bei ihm kaum unterdrücken. Aber in guten Momenten fliegt er noch immer auf seine Frau, verschwindet mit ihr im zweiten Akt sogar – freilich nachdrücklich gelockt – für kurze Zeit unter der Decke des zentralen Bettes, was der Hofstaat kichernd mitbekommt. Almavivas cholerische Eifersucht wirkt emotional somit „echter“ als üblicherweise.

Den „Perdono“-Passagen im Finalbild (sie bezwingen durch besondere Mozart-Göttlichkeit) gönnen Ludwig/Wolf gedehnte Pausen: Momente glaubwürdiger Wiederannäherung. Sie – die Klügere – gibt verzeihend nach. Ein wirkliches „lieto fine“ ist das freilich nicht. Was nach diesem sommernachtstraumartigen Wirrwarr am nächsten Tag und danach folgt, muss offen bleiben, vermutlich neuerlich bonjour tristesse. Mozarts Opera buffa lässt, so wie sie am Theater Hagen gespielt wird, mit ernsten Gedanken zurück. Es ist halt doch nicht alles Spaß auf Erden.

In dem starken Ensemble wirken Cristina Piccardi und Kenneth Mattice besonders rollenstimmig. Susanna ist ein quirliges, bodenständiges Wesen, charmant und auch gefühlvoll, aber ohne Süßlichkeit, sängerisch wie auch im Spiel. Almaviva tobt (einmal sogar mächtig eine Axt schwingend) durch das Geschehen, testosterongesteuert wie ein Hirsch in der Brunft. Es ist ein Verdienst des famosen, flammenden Sängers, dass dies nie ordinär wirkt. Veronika Haller gibt die Contessa als eine immer noch blutvolle Frau, klarstimmig – bei leicht angestrengter Höhe. Der Cherubino von Kristine Larissa Funkhauser bekam gute Premierenkritiken. Die erlebte zweite Aufführung vermittelte in vokaler Hinsicht eher ungünstige Eindrücke: eine verhärtet klingende Stimme ohne den Charme pubertär quellender Erotik. Die Darstellung freilich überzeugte.

Bei den Comprimario-Partien gute Kräfte: Anna Lucia Struck (Barbarina), Rainer Zaun (als Bartolo wie immer voll aufgedreht), Richard Van Gemert (schleimig-buffonesk als Basilio, köstlich stotternd als Don Curzio) sowie der Gast-Antonio an diesem Abend, Hiroyuke Inoue. Ganz und gar abendfüllend die bühnenpralle Marcellina der Joslyn Rechter.

Christoph Zimmermann 15.10.16