Hof: „Dornröschen“, Engelbert Humperdinck

Als das Werk im Jahre 1902 in Frankfurt am Main herauskam, bezeichnete ein Kritiker den Text als „süßliche Töchteralbumverse“. In der Neuen Zeitschrift für Musik konnte man eine kritische Zusammenfassung lesen: „Sternenballett, Versuchungen, aber im zweiten Akt doch etwas matter, in dem Maße, als sich die Dichtung vom Märchen auf das Gebiet des Ausstattungsstücks begibt.“ Hier habe der Komponist „nicht zu folgen vermocht“ – so sei er „ein Opfer seines Librettos geworden.“ Im Programmheft lesen wir weitere Invektiven der Herren Kollegen von Anno Dutt: „Mit wirklicher Kunst hat dieses verworrene Schaustück nichts gemein“.

© H. Dietz Fotografie

Soviel ist richtig: Engelbert Humperdinck hat sein Dornröschen nicht als „Märchenoper“ (wie in der Anzeige des Theaters), sondern als „Ausstattungsstück mit allerhand Musik“ bezeichnet. Das „Sternenballett“, von dem vor 123 Jahren die Rede wares steht im 2. Akt –, ist allerdings ein Höhepunkt der Inszenierung des Werks im Theater Hof, die ihm Gerechtigkeit widerfahren lässt. Selten genug, dass es auf die Bühnen gebracht wird, selten genug, dass man es einmal hört. Die einzige Aufnahme des Stücks bringt immerhin die Musik: mit einem neuen Text, der den als zopfig verschrienen Text der Librettistinnen Elisabeth Ebeling und Bertha Lehrmann-Filhés zu Gunsten eines neuen suspendiert. Auch in Hof spielt man eine neue Dialogfassung (ohne die ursprünglichen Melodramen), die von der Regisseurin Tamara Heimbrock verantwortet wird, um die „Hofer Erstaufführung!“ ins Werk zu setzen. Ob das gelind marktschreierische Ausrufezeichen berechtigt ist, sei dahingestellt, auch mag es etwas übertrieben erscheinen, dass die Aufführungsversion der Hofer Aufführung als „Uraufführung“ einer „Hofer Fassung“ tituliert wird. Sei‘s drum, wie es in der Frau ohne Schatten so schön heißt, denn der Opernfreund muss ja schon zutiefst dankbar sein, dem raren Stück live auf einer Bühne zu begegnen.

„Zutiefst“? Ja, denn wie so oft ist es erst die reale Aufführung, die dem Musikfreund die Meriten einer Komposition nahebringt. Hört man sich die Tonkonserve an, mag man denken: Ist ja ganz hübsch, aber was soll‘s? Hänsel und Gretel bleibt Humperdincks einzige vollkommene Oper; Königskinder lassen wir jetzt mal, ungeachtet einzelner Großartigkeiten, beiseite. Hört man sich jedoch in Dornröschen ein, bedauert man es, dass das Werk so selten gespielt wird. Da sind doch, neben dem wirklich entzückenden Sternenballett (Walzerlied mit Chor!), etliche Nummern zu entdecken, die das wiederholte Anhören lohnen: Von der inspirierten Ouvertüre bis zum Schlusschor. Humperdinck war eben, alles in allem, als Mensch wie als Musiker ein feinsinniger Charakter, dem man nicht vorwerfen kann, dass er, während Strauss seine expressionistischen Geniestreiche in die Welt warf, im Gleise eines sog. Konservatismus agierte, der sich auf zarteste Wirkungen verstand.

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Dafür stehen an diesem Abend vor Allem die Hofer Symphoniker ein, die unter dem Dirigenten und Partitur-Bearbeiter Michael Falk Humperdincks Musik zum Leuchten bringen. Deliziös klingen da schon die bezwingend kammermusikalisch eingesetzten Streicher, die subtilen Lyrismen der Violoncelli, der noble Dreitakter des Sternenballetts. Humperdinck schrieb eine Musik, die zwar nicht kindgerecht ist, auch wenn die im Parkett sitzenden Kleinen der Aufführung ihre Aufmerksamkeit schenken. Wie Hänsel und Gretel ist Dornröschen eine Oper für erwachsene Hörer, doch hat es gleichzeitig das Zeug, als Türöffner in die Welt der Oper zu dienen, wenn die Inszenierung es unternimmt, keine wie auch immer geartete Kritik, sondern das Werk mit seinen tiefsinnigen Deutungsmöglichkeiten zu realisieren: meinethalben mit irgendeiner zusätzlichen Ebene. In Hof beschränkt man sich aufs Offensichtliche, auf die Fabel, auf die „einfache Geschichte“ – aber sie tut es mit dem Witz eines Ausstattungsstücks, wobei gelegentlich die Puppenspielerin Mirjam Hesse mit Objekten (Federn, Quecksilbers Kugeln und eine gummiartige, wie von Dali gebauten Uhr: die Zeit verfließt) die Aktionen und die Akteure begleitet.

Dornröschen tritt uns also als junge Frau der 1920er Jahre entgegen: weil zwischen dem Spiendelstich und ihrer Auferweckung genau 100 Jahre vergehen. So landen wir am Ende in der Gegenwart, nachdem wir bei zwei anderen Figuren – die auch von der Darstellerin der Titelpartie gesungen und gespielt werden – in der Ära der 60er (das ist die Personifikation der Morgenröte) und, mit der Allegorie des Quecksilbers, in den 90ern sind. Die Geschichte der „Erlösung“ des Dornröschens und die Heldentour des „Prinzen“ wird also als Zeitreise bebildert, in der das Mädchen nicht als passives Opfer, sondern als aktive Partnerin des Jungen definiert wird, denn die beiden Helferfiguren sind nichts Anderes als das Dornröschen selbst. Eine Traumreise, was sonst?

Morgenröte, Quecksilber? Humperdincks und Elisabetrh Ebelings Dornröschen erweitert das bekannte Grimmsche Märchen um einige Szenen, die die märchenhafte Spannung steigern, aber auch als Möglichkeiten für das von den Kritikern monierte Ausstattungsstück gute Dienste tun. Dornröschen mit rotem Pagenkopf, im schlanken Goldkleid eines typischen Flapper Girls der 20er, dann als Hippiemädchen der 60er und als Sci-Fi-Silberwesen, wie von einem anderen Stern gekommen, auf dem einst Davis Bowie gewohnt hat, schließlich als „normale“ Frau von Heute (Hemd und Jeans und Stiefeletten): das sind die Kostümideen Jeannine Cleemens, die auch die Bühne entwarf. Das Personal bewegt sich durch ein Märchenland aus weißen, mit zartblauer Porzellanmalerei versehenen Wänden, vor denen am Ende die unveränderten Märchengestalten des Königshofs noch stehen. Zwischendurch löst sich das Gebilde leicht auf, gerät in Bewegung, während dem Prinzen das schlafende Dornröschen (und die lustige Hofgesellschaft) als lebendes Bild im goldenen Rahmen präsentiert wird, während sie selbst als Figur sehr surreal an der Decke klebt. Die vier Jahreszeitenfeen, an der Spitze die Frühlingsfee Rosa, sind bunt, sehr bunt und natürlich jahreszeitengerecht gefärbt (das Stück könnte, das macht schon die Szene vor dem Ouvertüren-Vorhang klar, auch heißen: Der Kampf der Rosa Feder mit der schwarzen Feder), die böse Fee kommt als schwarzviolette Horrorgestalt auf die Szene, während das Königspaar in reinem Weiß und mildem Glanz für die Märchenzeit einsteht. Ein Ausstattungsstück? Ein Ausstattungsstück, das auch.

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Vor allem aber ist es die Geschichte einer Liebe, die nicht über Gebühr psychologisiert wird. Nein: Eugen Drewermann hat hier nicht dramaturgisch Pate gestanden, aber die Ur- und Hintergründe des Märchens, diese auch sexuell und seelisch deutbare Geschichte von Mann und Frau, tiefem Schlaf und Auferweckung in ein anderes Leben werden deutlich genug auf die Bühne gebracht. „Erstmal“, schreibt Alena Pardatscher im Programmheft der Produktion, „erstmal muss sich der Teenager emanzipieren vom Schutz der Eltern, den strengen Regeln des Hofes und den Erwartungshaltungen der Gesellschaft. Dann erst kann sich der Mensch zeigen, zu dem sie als junge Frau heranwachsen wird“ – als junge Frau, die mit ihrem Freund buchstäblich durch das Leben radeln wird. So deutet die neue Inszenierung die alte Geschichte, ohne sie über Gebühr zu entkindlichen. Naives Pathos bleibt erhalten, wenn die guten Feen und die böse Hexe, die Helfergestalten und die schlafende Hofgesellschaft die Bühne bevölkern. Was nicht im Text gesagt wird, kann gesungen werden; zumal die Soli des Dornröschens und des Prinzen erfüllen, irgendwo zwischen Großer Oper und Humperdinckschem Singspiel, die nachwagnerschen Opernkonventionen des späten 19. Jahrhunderts (ob Wagner, der Humperdinck die Komposition von Märchenstoffen empfahl, Dornröschen gefallen hätte, wird man leider nie herausfinden. Sehr wahrscheinlich, dass ihm die Nähe der Erweckungsszene zu Brünnhildes Entschlummerung aufgefallen wäre). Es macht jedenfalls Freude, mit dem Dornröschen der Annina Olivia Battaglia eine erstklassige Interpretin der Partie des „Prinzessin Röschens“ zu erleben. Reiner Glockensopran, Ausdruck in der Gurgel – und sportiv bewegen kann sie sich auch noch, während Inga Lisa Lehr als Frühlingsfee den zweiten Hauptrollensopran ins Spiel bringt. Stefanie Rhaue ist Mezzosopran, daher darf sie die schwarze Fee mit dem bezeichnenden Namen „Dämonia“ mimen und böse-lustvoll aussingen. Der Prinz ist natürlich Tenor, Minseok Kim hat einige große Momente, mit denen der Komponist anzeigt, was ein guter strahlender Tenor ist. Kim nutzt sie sie souverän aus. Thilo Andersson ist der König Ringold, dann auch, wie sinnreich, der Mond, während Alexandra Ebert (die als Einspringerin den Nachmittag der Derniére quasi rettet) die Königin Armgart und die Sonne spielt. Es ist deshalb sinnreich, weil sie hier das sich notorisch streitende, dort das meist einvernehmliche Paar zu verkörpern haben – die zwei Seiten einer Beziehungs-Medaille. Dong-Joo Kim, Magda Chichiashvili und Annett Tsoungui machen Sommer, Herbst und Winter: auf jenem guten Niveau, das der Chor des Theaters Hof unter der Leitung von Lucia Birzer und Ruben Hawer garantiert.

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Der Chor macht also im zweiten Akt auch das Sternenballett, eine Performance im Dunklen, mit tanzenden Handlichtern. Es ist ganz entzückend – und begeistert, glaube ich, nicht allein die Kleinen unter den Zuschauern.

Schon diese Szene – und nicht allein sie – hat musikalisch und szenisch den seltenen Besuch des Humperdinckschen Dornröschens gelohnt.

Frank Piontek, 20. Januar 2025


Dornröschen
Märchenoper von Engelbert Humperdinck

Theater Hof

Premiere: 25. Oktober 2024
Besuchte Aufführung: 19. Januar 2025

Regie: Tamara Heimbrock
Musikalische Leitung: Michael Falk
Hofer Symphoniker