Premiere: 26.10.2018, besuchte Vorstellung: 7.12.2018
TRAILER
Laut Clive Hirschhorns Standardwerk „The Hollywood Musical“ („1344 Films described and illustrated“) von 1981 war es das „beste Musical von 1967“, als solches „an irresistible mixture of brashness, charm and nostalgia put together with expertise“: „Thoroughly Modern Millie“. 1967 konnte man die unvergleichliche Julie Andrews im Kino erleben. Die Story um das Flapper Girl (wie dieser Typ von City Girl in den 20ern hieß) Millie Dillmount war damals schon etwas älter. Schon 1956 hatte es das Musical Chrysanthemum im UK gegeben, in dem ein zunächst junges Mädchen in der Großstadt andockt, um sich einen reichen Chef zu angeln – dass sie ihn am Ende auch bekommt, obwohl sie inzwischen begriffen hat, dass es immer nur um „die Liebe“, „die Liebe“ und – drittens – „die Liebe“ gehen sollte, steht auf einem anderen Märchenpapier, auf dem die Geschichte eben so endet, wie sie enden muss: mit einem Happy End. Die Produzenten von 1967 engagierten nun den Komponisten Jimmy Van Heusen und seinen Texter Sammy Cahn; das Team hatte bereits die Songs zu Hitchcocks Meisterwerk „Das Fenster zum Hof“ und zu „Sieben gegen Chicago“ geschrieben. Sie mischten fröhlich neue Songs mit alten Standards aus den 10ern und 20ern zusammen, um für die Handlung, die im New York des Jahres 1922 spielt, die richtige „Couleur locale“ zu schaffen. Von Heusen & Cahn stammten „nur“ der Auftrittssong der Heldin und „The Tapioca“, aus der Kiste des alten New York kamen beispielsweise „Jazz Baby" von M.K. Jerome und Blanche Merrill, „Ah! Sweet Mystery of Life“ aus „Naughty Marietta“ von Victor Herbert und Rida Johnson Young und andere moderne Klassiker. Zusätzliche Musik kam übrigens von Elmer Bernstein, der dafür seinen einzigen Academy Award erhielt, obwohl er auch den unverwechselbar idiomatischen Soundtrack zu den „Magnificent Seven“ geschrieben hatte. Das Ganze wurde schließlich von einem weitere Komponisten arrangiert und dirigiert, der weit über den Broadway hinaus bekannt wurde: André Previn.
Seltsamerweise kam man erst 33 Jahre später auf die glorreiche Idee, aus dem Film- ein Bühnenmusical zu machen. Nun setzte sich Jeanine Tesori, die neben vielem anderen die Filmmusik zu Shrek the Third und zwei uraufgeführte Opern schrieb (2011 kam „A Blizzard on Marblehead Neck“ heraus, 2013 im Kennedy Center „The Lion, The Unicorn, and Me“) mit Dick Scanlan zusammen, die nach dem „book“ von Richard Morris und Dick Scanlan eine Bühnen-„Show“ machten. Diesmal wurde die Musik von Doug Besterman und Ralph Burns orchestriert. Wer immer die Instrumentation einer im Klaviersatz vorliegenden Komposition für unwesentlicher hält als die Vorlage, sollte wissen, dass erst die Instrumentation die Komposition macht. Es ist schließlich ein gewaltiger Unterschied, ob ein Blechblasensemble röhrt oder eine Streichergruppe säuselt – auch die Instrumentation, die Tesoris Opus erfuhr, ist wirklich prachtvoll: differenziert, farbig, einfallsreich.
Die Version, die 2002 am Marquis Theatre, also in der 46th Street uraufgeführt wurde, 903 Vorstellungen erlebte und nicht weniger als sechs Tonys gewann (u.a. den des „Best Musical“), zeichnet sich dadurch aus, dass wiederum elf neue Songs hinzukamen. Nicht nur dies: Ballettfreunde werden mit einer „Nuttycracker Suite“ beglückt, die in einer „Flüsterkneipe“ gespielt wird. Eine brillante und witzige Hommage an Tschaikowsky, ganz im Stil der charlestonseligen Roaring Twenties. Dass es dem Hofer Orchester unter Michael Falk hörbar Spaß macht, den hinreißend quirligen „score“ zu spielen, gehört zu den vielen schönen Eigenheiten des kurzweiligen Abends, mit dem Millie aus Kansas nun endlich auf eine deutsche Bühne kam.
Julia Leinweber ist das perfekte Flapper Girl. Mag sein, dass sich die Regie Stephan Brauers, der auch die Choreographie erstellte, weniger von der Uraufführungsproduktion unterscheidet, als es im Opernbereich üblich ist; man kann sich auf Youtube übrigens einen illegalen wie verwackelten Mitschnitt der Broadway-Produktion anschauen. Im von Annette Mahlendorf gestalteten, Ambiente „im Stil des Art Déco mit Wow-Effekt“, wie sie sagte, erweist sich Julia Leinweber als vollkommenes Mädel vom Land, das den New Yorker Crash-Kurs glänzend besteht. Der Typ, den sie zunächst anrempelt, und in dem sie sich gattungsgemäß zu verlieben hat, bevor sie nach den ebenso gattungstypischen Verwirrungen am Ende zu ihm kommt, dieser Typ trägt den auffallenden Namen Jimmy Smith. In Hof wird der gut aussehende junge Mann von Jannik Harneit gemimt: gerade an der Staatsoperette Dresden im Engagement steht. Ein Gewinn auch für die Hofer. Stefanie Rhaue spielt die immerhin mit einer grandiosen Solonummer und gewichtigen Spielszenen gesegnete Partie der „Mrs. Meers“, die falsche, mit reichlich Selbstironie und theatralischer Grausamkeit ausgestattete Chinesin, die Chefin eines Mädchenhändlerrings, der von Ching Ho (Markus Gruber) und Bun Foo (Thilo Andersson) accompagniert wird: zwei liebenswürdigen Chinesen, die unschuldigerweise in die Klauen der Verbrecherin geraten sind. Gruber und Andersson machen das köstlich, singen und sprechen übrigens bis kurz vor Schluss fast ausschließlich chinesisch (oder das, was es sein soll), während die falsche chinesische Schlange meist vergeblich versucht, die Waisen ihres Hotels mit allerlei Mitteln zu betäuben.
Der kleine Schlussgag kommt gut: da taucht während des Applauses plötzlich die Mutter der Beiden aus dem Zuschauerraum auf, die von den beiden Jungs rührend empfangen wird. Cornelia Löhr ist wieder einmal brillant hoch zwei: als Vorzimmerdrache und Büroschrapnell Miss Flannery stelzt sie nicht nur mit ihrer rollenden Schreibmaschine gravitätisch über die Bühne; auch sie ist ein vitaler Teil der höchst vitalen Choreographien, die diesmal in unglaublich agiler Weise vom Chor mitgetanzt werden. Respekt fürs Ensemble unter der Leitung Roman David Rothenaichers, das sich dem „Dance Captain“ Harneit und dem Regisseur derart lustvoll hingab. Riesenbeifall für die Nummern, die dazu führend, dass diese technisch und komödiantisch exzellente Produktion auch in Nürnberg und München Furore machen würde. Birgit Reutter spielt die blondgelockte Millionärstochter Dorothy Brown, die sich zunächst in den Boss Trevor Graydon zu verlieben scheint, doch bleibt es am Ende beim ersten Chinesenbruder, der die Lady aus höchster Gefahr retten will, statt sie dem internationalen Mädchenhandel auszuliefern.
Graydon: das ist der erzkomische wie rasant parlierend-singende Christian Venzke, der in einer schier atemberaubenden Diktatnummer (es gibt nur ums Affentempo) zeigen darf, was musikalische Komik auf den Spuren Rossinis, Lortzings, Liszts (dessen 2. Ungarische Rhapsodie zitiert wird) und Gilbert & Sullivans noch heute zu heißen vermag.
Nicht zuletzt Julia Harneit aber zeigt als Muzzy van Hossmere, der Star der Stars, wie sich der Stil der 20er mit denen einer bigbandveredelten Gegenwart vermengen kann. Die Frau hat einfach Aura – und eine starke, voluminöse Stimme. Applaus also nicht allein auf der Bühne des Cotton Clubs. Nicht zuletzt komplettieren das Ensemble die drei „kleinen“ Damen, die man aus dem Chor auslieh: Bärbel Kubicek, Malgorzata Kusmierz und Anett Tsoungui dürfen solistisch glänzen; sie machen das im üblichen, aber guten, leicht überdrehten Stil.
Nicht überdreht, sondern immer im richtigen Timing, manchmal laut, doch nie zu laut, brillant akkompagnierend und sich rasant in die hervorragende Partitur stürzend: das sind die Hofer Symphoniker, quasi die akustische Entsprechung zur „THE ARTS Company“, einer neu gegründeten Tanzschule der preisgekrönten Soul City Dancers, die innerhalb der Choreographien auch Stepptanz-Einlagen aufs Parkett bringen. Schließlich ringen nicht allein Julia Leinweber und Birgit Reutter den Fahrstuhl zum Laufen, wenn sie in den sechsten Stock fahren müssen, hinter dessen Türen die entzückenden Ladies wohnen, die uns an diesem Abend neben den männlichen Mitgliedern des Ensembles beglücken. Was bleiben wird? Sicher das Schreibmaschinen-Ballett, sicher die wilde Nussknacker-Party, vielleicht die Anspielungen auf die Tell-Ouvertüre und die anderen Opernklassiker, möglicherweise der schöne Sound, der entstand, als sich ein Liebesduett plötzlich in ein -quartett verwandelte, gewiss auch die Erinnerung an rasante und ästhetisch anspruchsvolle, bewegte Gruppenbilder – und an ein Mädel vom Land, das die New Yorker bzw. Hofer Bühne mit Charme und Rasanz gerockt hat.
Frank Piontek, 8.12.1018
Fotos: © H. Dietz Fotografie, Hof