Hof: „Hänsel und Gretel“

Premiere: 11.3. 2016. Besuchte Aufführung: 25.12. 2017

Am Heiligen Abend lief wieder einmal ein Musicalfilm im Glotzophon, der nicht als ideologiekritischer Beitrag zum Weihnachtsfest, also dem Fest der Liebe und der Kinder, konzipiert wurde, aber dank seiner auch nach Jahrzehnten noch tief bewegenden Botschaft und seiner unglaublich guten Musik glatt als solcher durchgehen könnte: „Mary Poppins“. Gleich danach wurde übrigens ein weiteres, sehr schönes, wenn auch nicht ganz so vollkommenes Meisterstück des US-Amerikanischen Musiktheaters gebracht (denn wer und was ist schon so vollkommen wie Mary Poppins?): „The Sound of Music“. Witzigerweise spielt in beiden Filmen die wunderbare Juli Andrews die Hauptrolle, und beide Male spielt sie, was für sein seltsamer Zufall, eine Erzieherin namens Mary/Maria, die es mit einer liebenswürdigen Rasselbande von Kindern zu tun hat.

Was hat dies alles mit „Hänsel und Gretel“ zu tun, das nun im Theater Hof in einer einer einzigen Wiederaufnahmevorstellung über die Weihnachtsbühne ging?

Ganz einfach: Immer, wenn der Bayreuther Rezensent sich eine Hofer Opernvorstellung anschaut, in der Stephanie Rhaue mitspielt, -singt, -mimt und höchst lebendig -agiert, muss er an Pamela L. Travers Erfindung des viktorianischen Kindermädchens denken, das bis heute die kleinen und die großen Musicalfreunde beglückt. Wie schön wäre es, wenn Frau Rhaue einmal die Traumrolle der Mary Poppins spielen würde, aber da unsere Intendanten offensichtlich der Meinung sind, dass die Darstellerin der Mary Poppins selbst dann ein bestimmtes Alter nicht überschritten haben darf, wenn sie (vermutlich) die Rolle höchst überzeugend spielen würde, können wir uns Stefanie Rhaues Mary Poppins leider nur vorstellen. In Humperdincks „Kinderoper“, die eigentlich keine ist, spielt Stephanie Rhaue seit dem 11. März 2016 nicht die Gute, sondern die Böse: nämlich die Hexe Rosine Leckermaul. Doch halt: Sie spielt auch die Mutter, die nur deshalb die Kinder zur Minna macht, weil sie von der sog. Sozialen Situation schlicht und einfach überfordert ist.

Der Vater ein Alkoholiker, die Mutter, warum auch immer (es wird nicht so recht klar, obwohl das Bild natürlich deutbar ist), blind, die zankenden Gören die authentischen Mitglieder des „Prekariats“: so mag man auf des Besenbinders Bagage schauen. Dass Frau Rhaue nun zugleich die Mutter und die Hexe spielt, wirft weniger ein Licht auf die Nöte der Besetzungspolitik an einem sog. Kleinen Haus. Es sagt uns auch etwas über die geheimnisvollen Wege, auf denen die unvollkommene Erziehung und die kindliche Angst, die edukatorisch überforderte Mutter und die Dämonin zusammenkommen. Tatsache aber ist, dass es in Hinrich Horstkottes schöner Inszenierung weniger um diese interessanten psychologischen Zusammenhänge als um etwas ganz Anderes geht: um den Nachweis, dass Humperdincks Oper von Wagner herkommt und „Hänsel und Gretel“ als Oper über die Wagneroper verstanden werden kann. Denn das Hexenhaus ist das Festspielhaus, im Haus des Besenbinders und seiner blinden Frau legt die ins Schwarz der späten Wagner-Ära gekleidete Frau (warum eigentlich? Sie ist doch blind) die Wagner-Noten aufs Pult des Harmoniums, und die Engel der Traumpantomime kommen als künstlerisches und nichtkünstlerisches Personal eben des Festspielhauses auf die Bühne, bevor die Lebkuchenkinder (also der liebliche Kinderchor des Jean-Paul-Gymnasiums neben dem Chor des Theaters Hof) wie in einem fröhlichen Wagner-Karneval als Elsa und Wotan, Walter und Elisabeth die Bühne beleben. Nein, die Traumpantomime hat auf mich diesmal keinen Eindruck gemacht; die Musik wirkte leider bei mir an diesem Nachmittag überhaupt nicht, weil, so mein Eindruck, Humperdincks musikalisch ungeheuer emotionale Traumpantomime nicht in dieser rational eindeutigen, wenn auch mit Flügelchen versehenen Figuren aus der trivialen Theaterwirklichkeit bevölkert werden kann, ohne an Zauber zu verlieren. Diese Szene verlangt Wunder, Glanz, Märchenstimmung. Sie benötigt dafür keinen Flitter und keine geflügelten Wesen. Sie muss jedoch, wie auch immer, tief ins Herz gehen, indem etwas „Anderes“ gezeigt wird. Hier aber ward’s nicht Ereignis. Hier hatten wir es mit einer bloßen Idee zu tun, die ins an sich nicht dumme, für die sog. Kenner erstellte „Konzept“ der Inszenierung gut hineinpasste, mehr aber auch nicht.

Es ist schade, weil Hinrich Horstkotte doch ein Mann ist, der mit großer Sensibilität für die Musik, für die Figuren und die Probleme der Handlung zu inszenieren pflegt. Ich konnte bisher drei Inszenierungen Horstkottes sehen, die zugleich ästhetisch schön und sinnlich, teilweise sehr berührend, nicht zuletzt intelligent waren: Carl Heinrich Grauns „Orfeo“ beim Festival „Bayreuther Barock“, Baldassare Galuppis komische Oper „Le nozze di Dorina“ in Potsdam und Gounods „Faust“ in Dessau. Auch „Hänsel und Gretel“ würde ich, abgesehen von der Traumpantomime, die mich leider kalt ließ, weil sie mir zu sehr mit dem Kopf als dem Herzen inszeniert schien, zu den guten „Hänsel und Gretel“-Inszenierungen rechnen: einer Inszenierung freilich, die im räumlichen Umkreis Bayreuths besser funktioniert als vielleicht in Annaberg-Buchholz, wo man zwar ein gutes Theater zu stehen hat, aber Wagner doch sehr weit entfernt ist. Es ist dies kein Gegenargument, denn das Taumännchen, das nur als Beispiel, als goldglitternden Franz Liszt zu inszenieren, der als Sopran (!) am Flügel sitzt, welcher schon in die rechte Seitengasse gleiten will, wenn er oder es, das Männchen, noch auf dem Klavierhocker sitzt: diese Anspielung auf Wagners Schwiegervater ist zwar nicht mehr als ein netter Witz, aber er erfreut das Kind durchs bloße Bild und bringt auch den erwachsenen Zuschauer, der den Liszt zu erkennen vermaag, zum Lächeln (Szenenapplaus!). Und wenn das Knusperhäuschen sich als überdimensionales Festspielhaus zeigt, kapieren wohl auch die aus Bayreuth angereisten Kinder intuitiv, dass diese Oper irgend etwas mit Wagner zu tun zu haben scheint. Dafür müssen sie nicht einmal erkennen, dass die Hexe zunächst ein Barett trägt und dann als blondzöpfige, brustbepanzerte Walküre über die Bühne fegt.

Dem Musikfreund ist das alles kein Rätsel, weil Humperdincks doch höchst originelle Partitur vor Wagner-Tönen, -stimmungen und mehr oder weniger bewussten Mikrozitaten, bis hin zum „Tristan“ (das Lamento der Mutter) und einigen „Parsifal“-Spänen, nur so wimmelt. Die Anspielungen der Inszenierung folgen also der musikalischen Schicht, ohne doch zu einer völlig logischen Deutung zu gelangen. Macht nichts: Eine Operninszenierung, schon gar die Inszenierung eines Märchenstücks, ist keine musikhistorische Dissertation, sondern ein Angebot der Fantasie an die Fantasie. Sie wird in Hof auch durch die von Horstkotte selbst entworfenen Bilder und Kostüme weniger beflügelt als bestätigt. Im finsteren Wald, durch den der Nebel mächtig wabert und die schlafenden Kinder überwölbt, in dem das wirklich gruselige Quartett der Lebkuchenmännchen deutlich untot herumläuft und das Sandmännchen wie aus einem klassischen, freilich mit einem Klavier und einer köstlichen Katze ausgestatteten Kinderbuch erscheint, lässt sich’s wohlig schaudern und schlafen.

Die Hauptsache sind und bleiben die Kinder: Inga Lisa Lehr ist eine sehr weibliche Gretel, weil sie in den herrlichen lyrischen Spitzenpunkten ihrer Partie alles andere als kindlich auftritt. Wie gesagt: „Hänsel und Gretel“ ist keine „Kinderoper“, sondern ein anspruchsvolles Musiktheaterstück für reife Sängerinnen und Sänger. Lehr ist eine Sängerin, die längst über die Soubrettenqualitäten früherer Partien hinausgewachsen ist und die Gretel höchst ohrenschmeichelnd gestaltet. Ihr zur Seite steht der gute Hänsel der Patrizia Häusermann, die, wie seine Partnerin, ebenso beherzt singt – und sich realistisch zankt. Den Papa macht der metiersichere Wieland Satter, die beiden Männchen, auf schönem Niveau, die jugendliche, sichere und sandmännchenmäßig stark bebartete Chorsolistin Dong-Joo Kim. Übernahm Satter die Rolle für James Tolksdorf, so der Dirigent Michael Falk den Taktstock für Roland Vieweg. Wer an diesem Abend bei den Hofer Symphonikern einen kapitalen Aussetzer in den Streichern und, mit Eidechsenohren, ein paar Schludrigkeiten bemerkte, muss wissen, dass diese separate, schon fürs jugendliche Publikum verdienstvolle Weihnachts- und Nachmittagsaufführung nur ungenügend, nämlich vor einigen Wochen einmal und kurz vor der Aufführung mit einer einzigen BO zu wenig geprobt werden konnte.

Ein „normales“ Opernhaus ist bekanntlich kein Märchenwald, sondern (auch) ein Wirtschaftsunternehmen. Man wundert sich nur manchmal, was unter nicht gerade idealen Bedingungen an akustisch und szenisch bewegender Theaterkunst herauskommt: so wie meist an diesem Nachmittag, an dem Mary Pop – pardon: die Hexe als witzige Walküre und blinde Mutter zwei wunderbare, weil schlicht und einfach klasse gespielte und deutlich gesungene Auftritte hatte.

Frank Piontek, 27.12. 2017

Fotos: © H. Dietz Fotografie