Hof: „La Traviata“

Premiere: 3.6. 2016, besuchte Vorstellung: 5.6. 2016

Feine Töne, klare Linie

Gerade war mit der Inszenierung des „Sommernachtstraums“ im Römischen Theater der Eremitage ein fantastischer Großtraum zu erleben – und fast gleichzeitig hat das Theater Hof einen Traum inszeniert, der, je nach Betrachtungsweise, einen ganzen Akt oder einen ganzen Abend dauert. Violetta, die „vom Wege Abgekommene“, stirbt da ihren bekannten und auch in dieser Aufführung ergreifenden Tod, doch wird sie nicht von den bekannten Protagonisten in die letzten Momente ihres Lebens begleitet. Jeder stirbt für sich allein – auch die Frau, die sich ein Sterbefest imaginierte, das noch einmal den Liebsten und seinen Vater, die getreue Begleiterin Annina und den guten, aber angesichts der Todeskrankheit hilflosen Doktor an ihrem Sterbebett vereinigt sieht. Es ist nur ein Traum – ein Traum, der mit dem Leben enden muss.

Die Aufführung von Verdis revolutionärer Oper als einen einzigen Traum zu bezeichnen: auch dies wäre nicht falsch, steht doch eine Sängerin auf der Bühne, die 1. nuanciert und wohltönend singt und 2. so gut agiert, dass die bekannte Geschichte von Neuem ins Herz wohl eines jeden Zuschauers greift. Anna Sohn ist eine Violetta Valéry, die vom ersten bis zum letzten Augenblick packt: weil sie gerade die feinen Töne bannend beherrscht. Ihr „misterioso“, also die Erinnerung an das Liebesgeständnis ihres Alfredo, könnte bannender nicht sein. Es kommt auch deshalb so überzeugend über die Rampe, weil am Pult der Hofer Symphoniker ein Dirigent steht, der dem Orchester beigebracht hat, wie man zugleich leise und intensiv spielen kann. Dieser Verdi kracht nicht unter Arn Goerke, er singt sich aus, er ist rhythmisch federnd, er klingt stellenweise gar wie ein idealer Operntraum des Robert Schumann; die Streicher ziselieren nicht allein in den zahlreichen Valse tristes dieses Totentanzes die schönsten Linien aus dem Material, das Verdi im Grenzgebiet zwischen Kammerspiel und großer Geste angelegt hat.

Die Regie folgt dieser Linie kongenial, weil die Verlagerung der Handlung in die Endzwanziger den sozialen Rahmen, in dem eine solche Outsider-Geschichte noch möglich scheint, nicht unzulässig um das Motiv der Drogensucht erweitert. Lothar Krause hat, zusammen mit der Bühnenbildnerin Annette Mahlendorf, klare Bilder einer dekadenten „High Society“ in klar strukturierten, zunehmend dunkler werdenden Räumen geschaffen. Allzu starker Symbolismus ist ihm, abgesehen von der abgenutzten Idee des Schneiens, fremd; nur der Auftritt eines kleinen Mädchens, das im Gespräch des bürgerlichen Vaters mit der unbürgerlichen Lebedame für die zu verheiratende Tochter des alten Germont einstehen soll, bricht – unnötigerweise? – das Konzept, das eher das Sozialdrama als das Traumspiel zu betonen scheint. Wäre da nicht der gesamte dritte Akt…

Dass er in seiner schlichten Strenge funktioniert, liegt auch am Tenor. Andre Nevans, der den Alfredo als netten Jungen gibt, besitzt eine schmiegsame lyrische Stimme, die zum expressiven wie gezügelten Sopran seiner Partnerin schon charakterlich trefflich passt. Bleibt der Bariton, James Tolksdorfs Germont, der fast zu salbungsvoll singt, um vielleicht gänzlich zu überzeugen – aber passt die vollkommene Schönheit seines Organs nicht trefflich zu seinen vielen Bezeugungen der bürgerlichen Anständigkeit, der Gottestreue und des Lobpreises des „Engels“ Violetta, der eben auf dem Altar der bürgerlichen Reinheit geopfert werden muss?

Und schliesslich: Stefanie Rhaue als Annina – auch sie muss genannt werden.

Starker Beifall für eine handwerklich geglückte wie stimmlich meist und instrumental immer erstklassige Aufführung, die das Wort von der „Provinz“ unaufgeregt widerlegt.

Frank Piontek, 7.6. 2016

Fotos: Harald Dietz, Hof