Premiere am 18.9.15
Mutiger großer Saisonauftakt
1925 wurde „Georg Büchners Wozzeck“, wie der ungekürzte und korrekte Titel des Werkes lautet, in Berlin uraufgeführt. 90 Jahre sind vergangen, doch immer noch gilt Alban Bergs „Wozzeck“ als das Schlüsselwerk der Opern-Moderne, zudem als einzige Oper aus dem Bereich einer extrem gespannten Tonalität, die ins Repertoire aller internationalen Opernhäuser Einlass fand. Nun endlich hat das fantastische Ausnahmestück, dank des Generalmusikdirektors Arn Goerke, das Theater Hof erreicht. Die Hofer dürfen zufrieden sein – dies vor allem, weil hier der Spagat zwischen einer (meist) erstklassigen musikalischen Interpretation und einer Neudeutung (meist) gut gelang.
Ohne arrogant zu sein: wäre es nicht sinnvoll gewesen, das Werk, das in Hof noch nie erlebt werden konnte, in einer eher konservativen szenischen Deutung auf die Bühne zu bringen, statt es mit einem Einheitsbühnenbild und radikalen Änderungen zu versehen? Da die Hauptsache immer noch der singende Mensch bleibt, der die leidende, wütende, hassende Kreatur zu machen hat, ist der Fall weniger dramatisch als befürchtet, denn schnell schon erweisen sich die dramaturgischen Fragwürdigkeiten, die vom Regisseur Christian Tombeil und der Bühne- und Kostümgestalterin Gabriele Wasmuth verantwortet werden, weniger wichtig als die Kraft der Darsteller. Birger Radde ist ein fast zu schön artikulierender Bariton, der dem Wozzeck zu singen gibt, was er leidet. „Das Gesangsfach Bariton“, schrieb Peter Peter Petersen in seinem Grundlagenwerk über „Georg Büchners Wozzeck“, „eröffnet wie keine andere Männerstimme die Möglichkeit, einen komplexen Charakter, wie Wozzeck ihn darstellt, zur Entfaltung kommen zu lassen. Lyrisch-intime wie leidenschaftlich-dramatische, realistisch-deftige wie irreal-versponnene Ausdrucksbereiche stehen dem Bariton zu Gebote und ermöglichen die volle Ausschöpfung dieser bis in die Extreme menschlichen Erlebens und Leidens ausgelegten Figur.“ Radde kapriziert sich eher auf den leidenschaftlichen Ton, noch der Wahnsinn erscheint vokal gezügelt. Sein Wozzeck ist die leidende Kreatur, die den Wahnsinn eher ins Gestische, ins Krauchen, irre Beobachten, wie tot Daliegen und Geschleudertsein (wie im D-Moll-Intermezzo) verlagert: kein Verlust für die starke Rollenauffassung, die den Zuschauer und -hörer völlig erreicht.
80 Minuten hat Radde, das ist keine kleine Leistung, pausenlos auf der Bühne zu stehen: einem weiß gekachelten Raum mit umlaufendem Steg auf dem unteren Drittel, über und unter dem sich gelegentlich Durchlässe für die anderen Figuren öffnen, was gelegentlich eher ungelenk wirkt, weil es weniger dramaturgisch als bühnenpraktisch motiviert scheint. Ansonsten befindet sich dieser Mann nicht in der Kaserne, dem Wirtshaus, Maries Stube oder auf einem Waldweg, sondern an einem ausweglosen Ort, der irgendwo zwischen wasserlosem Hallenbad und Zelle definiert werden kann – ein Raum, in dem der Doktor seinen Patienten, den Mörder Wozzeck, mit Pillen (seinen „Erbsen“) traktieren und analysieren kann. Ist’s Wahn, ist’s Wirklichkeit, wenn Wozzeck mit Marie, dem Hauptmann, dem „einfachen Volk“ kommuniziert? Natur ist hier nur noch eine vom Video (also vom Videographen Yoann Trellu) vermittelte: in Wozzecks Kopf und/oder auf der Wand wird ein Waldweg, wird Wozzecks Gesicht projiziert. Derart misstraut die Regie dem so wichtigen Natur-Begriff Alban Bergs, dass sie auf den differenzierten Kontrast mit der (heruntergekommenen) „Kultur“ verzichtet, um „Natur“ nur noch als Wahnwelt zu imaginieren: wenn das Orchester unkt und raschelt, müssen technisch produzierte Bilder für jene Natur einstehen, die in der Anstalt keinen Raum mehr hat – aber ist nicht schon die vom Orchester produzierte Natur ein Produkt der reinen Technik?…
Wenn Karsten Jesgarz als halbgeschorener Typ, der gerade vom Leipziger Wave-Gothic-Festival gekommen zu sein scheint (also aus der Stadt, in der der Franz Woyzeck hingerichtet wurde), als Hauptmann stimmstark (die Höhen!) und extrem hysterisch mit dem Doktor (sehr gut: Hyung Wook Lee) zetert, der ihm den baldigen Tod voraussagt, darf der Zuschauer sich allerdings fragen, wieso und weshalb dies vor Wozzeck zugeht. Letzten Endes ist es die Intensität der Szenen und der Blicke (wunderbar, wie Marie in ihrer vorletzten Begegnung den Wozzeck anfunkelt), die die latente Unlogik des szenischen Arrangements spätestens dann vergessen machen, wenn es – ab dem zweiten Akt – ans sog. Eingemachte geht.
Die Marie Yamina Mamaars ist, im Gegensatz zum stimmlich wenig löwenhaften, also gar nicht präpotenten Tambourmajor Andre Nevans‚, einfach glänzend: gesegnet mit einem leuchtend starken Sopran, spielt sie eine starke Frau noch im Unglück und der Trauer über die eigene Trauer. Ein Höhepunkt: der Mord, der derart von einer Videoprojektion überflimmert wird, dass die beiden Figuren im Raum zu schweben scheinen. Ein zweiter Höhepunkt: das gewaltige Scherzo der surrealen Wirtshausszene, in dem die Männer von vier „leichten Mädchen“ mit schwer symbolischen wie gewaltigen Hirschgeweihen ausstaffiert werden. Ein letzter Höhepunkt: der einsame Wozzeck auf der nackten, nun verkleinerten Bühne, da sich die Rückwand klaustrophobisch nach vorn geschoben hat – ein Monument der Einsamkeit. Die Musik könnte von Neuem beginnen, das Drama wieder seinen Lauf nehmen. Hat jemand das szenisch vorgeschriebene Kind vermisst?
Dass es in Hof so prachtvoll funktioniert, liegt nicht zum Wenigsten an den Hofer Symphonikern, die unter der Leitung Arn Goerkes eine Schwerarbeit leisten, die der Kenner der satztechnisch und instrumentatorisch wie eine Goldschmiedearbeit komponierten, mit unglaublich vielen Vortragsbezeichnungen und Artikulationen versehenen Partitur nur als delikat bezeichnen kann. Von der 10. Reihe aus klingen die meisten Passagen wie feinste, abgedämmte Kammermusik, die den Sängern allen Raum lässt und die Eruptionen, etwa das berühmte doppelte Crescendo, das nach der Mordszene erklingt, umso beklemmender macht. Nein, macht hört selbst dann nicht, wenn man präpariert ist, dass der Komponist seine Musik mit dem Formgerüst von mikrologisch komplexen Charaktersätzen, einer fünfsätzigen Symphonie (samt Tripelfuge) und einer Suite von Inventionen versah, aber man soll es ja auch nicht hören.
Dass die Passacaglia des Doktors und deren 21 Variationen zwölftönig organisiert ist: man muss es nicht wissen, um im bloßen Hören – dank einer guten Probenarbeit – klare Strukturen zu vernehmen. Was Berg schließlich allein wichtig war – das menschliche Drama -, dies kommt auch dank des Orchesters in Hof zum schönsten Klang. Der Bergsche Ton – dies ein Lieblingsbegriff des Komponisten – wird oft und meist relativ diskret gemacht: „die gläsern festgebannte Angst der Szene auf dem Feld, der zugleich grelle und getrübte Marsch hinter der Szene, das Wiegenlied, Echo der unterdrückten und aufsingenden Natur; der unsäglich melancholische Ländler der großen Wirtshausszene, Wozzecks abgründige Frage nach der Zeit, der unselige Schlaf in der Kaserne“ (wie Theodor W. Adorno in seinem schönen Berg-Buch schrieb). Der Chor hat, dramaturgisch tragend, seinen Anteil: unter der Leitung von Cornelius Volke und Hsin-Chien Chiu sieht er nicht nur stilistisch verfremdet aus (die zweite Wirtshausszene zeigt das Volk in schwarzweißen wie „unrealistischen“ Kostümen einer enthemmten Halbwelt der frühen Berg-Zeit: quasi mit „langen Kleidern“ und „spitzen Schuh“) – er artikuliert sich auch stil- und stimmsicher, nicht allein im Cluster des Jägers aus Kurpfalz. Nicht nur das d-Moll-Intermezzo ist bewegend, auch Wozzecks „Wir arme Leut“-Seufzer, die unheimlichen Prophezeiungen des Handwerksburschen (wirklich nicht schlecht, aber artikulatorisch noch steigerungsfähig: Daniel Milos ) und des Narren, der hier kein anderer ist als die Assistenzärztin, also
Stefanie Rhaue mit clownesker Pappnase. Ja, der Mond ist blutig, und das Drama in der geschlossenen Psychiatrie ein Albtraum.
Stefanie Rhaue hat auch, zusammen mit Wozzecks Jungen, den Abend eröffnet (und macht eine gute Margret: mit wilder Perücke und deutlichem Ton): mit einer Rezitation des unheimlichen Märchens vom einsamen Kind, das später von Marie angestimmt wird. Derart öffnet sich ein Abend, der Bergs Oper über den geknechteten Menschen mit (meist) sinnvollen Änderungen beikommt. Was nicht unmittelbar verständlich scheint, geht aufs Konto eines expressiven Surrealismus, der mit Wozzecks Phantasien und Erinnerungen wohl nicht genug erklärt werden kann. Und doch: Bergs Oper bleibt in Hof die herausragende, immer noch moderne Tragödie für Musik, die sie seit 90 Jahren ist. Der Beifall war demgemäß sehr freundlich, wenn auch nicht übermäßig lang.
Frank Piontek 20.9.15
Fotos: SFF Fotodesign Hof