Kiel: „Das Rheingold“

Daniel Karasek vereint Kubrick, Wagner und die Gegenwart

„Das Rheingold“ ist mehr als der Auftakt des „Ring“. Enthalten ist nicht nur die Vorgeschichte, sondern auch das Kommende. Hier sind alle Themen und Handlungsstränge angelegt, hier wird der Lauf des Schicksals programmiert. Im „Vorabend“ der Trilogie ist deren Ende, die „Götterdämmerung“, in jeder Hinsicht absehbar.

Im Prinzip müsste es daher vollkommen genügen, aus einer Inszenierungsreihe von Wagners Opus magnum lediglich „Das Rheingold“ zu besuchen, um zu diesem frühen Zeitpunkt, auch ohne „Die Walküre“ und „Siegfried“ gesehen zu haben, die Sicht – Interpretation und Konzept – des jeweiligen Regisseurs auf den gesamten „Ring“ zu erfassen. Wirklich spannend wird es dann erst wieder in der „Götterdämmerung“: Hier lässt sich die einst – ein bis anderthalb Jahre zuvor – zu „Rheingold“ formulierte eigene Hypothese auf Richtigkeit überprüfen.

In Kiel kann man derzeit zumindest den ersten Schritt zur Probe aufs Exempel tun: Dort hat sich Hausherr Daniel Karasek daran gemacht, den „Ring“ neu zu inszenieren. Seine Version des „Rheingold“ beginnt als winziger, gleißender Punkt auf abgedunkelter Filmleinwand. Ein leuchtender Stern im All, der expandiert, sich wandelt in flüssiges Gold, das wiederum in die Fluten irdischer Ozeane mündet und mit den Strömungen davongerissen wird wie visuell der Zuschauer. Der Anbeginn aller Zeiten, die Evolution im Zeitraffer – jenen Bildern ähnelnd, die man mit Kubricks „Odyssee im Weltraum“ verbindet.

Komplett ins Weltall schießt der Regisseur seinen „Ring“ jedoch nicht, wenn auch das düstere, eine Sonnen- oder Mondfinsternis andeutende Plakat dies nahezulegen scheint – die hinter der Leinwand zum Vorschein kommende Bühnenausstattung (von Norbert Ziermann) ist abstrakt ästhetisiert, aber nicht „spacig“.

Ein sanft leuchtendes Meerespanorama im Hintergrund der ersten Szene, davor die Rheintöchter auf langen Metallstangen schaukelnd, gekleidet in fließende Gewänder, die ebenso der griechischen Antike wie dem Jugendstil entstammen könnten. Als im zweiten Bild die Götter die Szene beherrschen, ein weiterer Bruch: Hier ist – fast – alles (Silber-)Graublau, die Herren tragen überdies strenge, an historische fernöstliche Mode erinnernde Überkleider oder, im Falle Wotans, eine Art schlichten Königsmantel. Ein merkwürdiges Sammelsurium all dies, sich (nicht nur bildsprachlicher) Eindeutigkeit verweigernd. Die Götter durchaus als Herrscher, nicht jedoch als Politiker erkennbar. Eher als Protagonisten einer – äußerst subtil beschworenen – Spaßgesellschaft, der der Spaß altersbedingt abhanden gekommen ist. Übrigens sind nicht einmal die naiv-unschuldigen Rheintöchter wirklich verspielt – eher sitzen sie wie eitle Hühnchen auf der Stange.

Einzig eine Figur gewinnt – vor dem Hintergrund vorherrschender Silbrig-, wenn nicht gar Farblosigkeit – in dieser Inszenierung erstaunlich an Ausdrucksstärke: Loge. Nicht nur seiner Zuständigkeit für das Element Feuer halber hat ihn die Kostümbildnerin (Claudia Spielmann) mit einem kardinalroten Unterkleid ausgestattet, das unter dem überdies pupurfarbenen Mantel hervorsticht. Ein Mann der Kirche (von Michael Müller wunderbar typisch in Habitus und Gestus verkörpert), umtriebig und mit allen Wassern gewaschen, mit den Mächtigen und Armen gleichermaßen paktierend und dabei stets auf den eigenen Vorteil bedacht – die Fingerspitzen, um sie nicht selbst schmutzig zu machen, sorgsam-diskret unterm Revers verbergend. Und tatsächlich passt all dies zu seinem Text: Ein kühl kalkulierender Strippenzieher, der mit spitzfindig-jesuitischer Kasuistik argumentiert („Was einem nicht gehört, kann man nicht rauben“) und der sich, nicht ungern, in der klassischen Rolle des Beichtvaters eingerichtet hat – wohin er auch kommt, wird ihm Leid geklagt, werden Vergehen eingestanden, wird ihm mithin Informationsvorteil verschafft.

Auf andere Weise augenfällig die Riesen: Von Figurenspielern bewegte übergroße Skelette aus Granit – museale Dinosaurier, die Zukunft der Götter vorwegnehmend, Höhlenmenschen, lagernd an der Basis der Bedürfnispyramide (Essen, Schlafen und wärmende Nähe), von denen einer dem anderen eins über den Schädel haut, um die Beute ganz für sich allein zu haben.

Einen Vorgriff auf letzteres enthält die Videosequenz, die den Abstieg in die Tiefen Nibelheims einleitet: Die Evolution schreitet voran – Mikroorganismen des Lebens entstehen, wachsen sich aus zu wilden Tieren. Das Fressen und Gefressenwerden, nicht nur Grundprinzip der „wilden“ Natur, sondern auch des „zivilisierten“ Kapitalismus, ist an der Tagesordnung. Und zwischen alledem ein – noch – wehrloser, hungriger Menschenaffe. Nur wenige Sekunden später zertrümmert er, mit Hilfe eines Knochens, einen Antilopenschädel. Die Not hat ihn erfinderisch gemacht, und im Triumpf schleudert er das neu geschaffene Werkzeug in die Luft. Der Abfall des Ur-Menschen von der Natur, die er sich fortan untertan machen wird, hat hier seinen Ursprung.

Obwohl dieser kurze Moment in der Wüste stattfindet, spielt er gleichermaßen im All – er ist Teil einer der berühmtesten Szenen in Kubricks „Odyssee im Weltraum“. Daniel Karasek zeigt den Kontext, in den er den „Ring“ gestellt hat, nicht kontinuierlich, und dennoch ist dieser stets gegenwärtig. Das nur auf der virtuellen Ebene Sichtbare ist eigentliches Thema: Die Verdrängung nicht nur des Todes, sondern des Bewusstseins für die Tatsache, dass das Bestehende sterben muss, damit Neues entstehen kann. Dies war die Botschaft, die Wagner in „Rheingold“ beabsichtigte, wie einem Brief an August Röckel zu entnehmen ist (im Programmheft abgedruckt unter der Überschrift „Wir müssen sterben lernen oder ‚Alles was ist, endet’“). Und auch Kubricks Film hat (irdisches) Vergehen und Werden zum Thema – besonders symbolträchtig am Schluss, als das Bild des sterbenden Astronauten überblendet wird vom lächelnden Gesicht eines im Weltall schwebenden Fötus. Das Antlitz des Gealterten, Toten, findet sich auf jenem des noch Ungeborenen, Jungen, wieder.

Dennoch, bei aller buchstäblichen „Abgehobenheit“ ist in Daniel Karaseks Inszenierung auch das Weltliche zugegen (was umso bedeutsamer ist, da „Rheingold“ ausschließlich in den himmlischen Höhen der Götter oder den unendlichen Tiefen der Erde – Meeresgrund und Bergwerkschacht – spielt). Zwar scheint die Wirklichkeit zunächst ganz fern, fast wie ein Märchenland. Märchenhaft nämlich mutet das Modell Walhalls, das in der zweiten Szene auf dem Tisch steht, auf den ersten Blick an: Mit zahllosen hochragenden Türmchen ist es beinahe eine Miniaturausgabe des Lieblingsrefugiums Ludwig II., dem Wagnerverehrer und -förderer. Spätestens am Schluss, als großformatige Bildprojektion über die gesamte Bühnenrückwand, erweist sich das spielzeughafte Schloss Neuschwanstein jedoch als megalomane Metropole – eine irre Vision von Gotham City und seinen bizarren Wolkenkratzern. Der Kapitalismus, die Börse, der Immobilienboom haben ihr Spiegelbild nicht etwa in des Rheines Gold – das steht für die absolute Schönheit der Natur – sondern in Wotans wahnhaftem Wolkenkuckucksheim. Die dahin führende Brücke ähnelt nicht zufällig der Brooklyn Bridge.

Manhattan allerdings kommt in Kubricks Weltraumepos nicht vor. Und dennoch lässt sich eine Verbindung herstellen zwischen seinem Film und jenem Ort. Der vollständige Titel nämlich enthält eine – zur Entstehungszeit des Films in der Zukunft liegende – Jahreszahl. Dass die Menschheit von künstlicher Intelligenz bedroht, sogar überwunden werden würde, galt 1968, als Kubrick seinen Film drehte, als wahrscheinlich. Sein Schlussbild verweist jedoch zumindest auf die Hoffnung einer Utopie als Zukunftsvision: Die bestehende Menschheit würde sterben – doch würde irgendwo im All eine neue, freundliche und friedliche(re) geboren werden.

Als die im Filmtitel genannte Jahreszahl in der Realität tatsächlich erreicht war, wurde jedoch etwas ganz anderes klar: Nicht in der künstlichen Intelligenz ist die größte Bedrohung der Menschheit zu sehen – sondern im Fanatismus und dem darin enthaltenen selbstzerstörerischen Potenzial, das im Menschen angelegt ist.

Dieser fatale Aspekt spielt auch am Schluss der „Götterdämmerung“ die entscheidende Rolle: Bünnhilde – von allem „Personal“ des „Ring“ der intelligenteste, aufgeklärteste und modernste Mensch –, verfällt in ihrem Abschiedsgesang einem dem Fanatismus nahestehenden Denken. Im Prinzip ließe sich ihr Handeln als das einer Selbstmordattentäterin begreifen. Und, ausgehend vom finalen Hintergrundbild dieses „Rheingold“, würden hinter ihr nicht nur ein Paar Wolkenkratzer, sondern die gesamte Gotham City in Flammen vergehen.

Lohnenswert ist der Besuch von Daniel Karaseks „Rheingold“ aber nicht nur zum Zweck der Hypothesenfindung darüber, was er mit den nächsten drei „Ring“-Teilen anstellen wird. Das Philharmonische Orchester Kiel unter Leitung von Georg Fritzsch meistert den Trilogie-„Auftakt“ gleichermaßen mit Verve und Dramatik. In Wagners Werken sind bekanntlich vor allem die Gesangspartien „mörderisch“ – in Kiel werden ausnahmslos alle Solisten den immensen Herausforderungen gerecht (in den Hauptrollen Thomas Hall als Wotan, Cristina Melis als Fricka, Agnieszka Hauzer als Freia, Michael Müller als Loge). Besonders erwähnenswert: Jörg Sabrowski als Alberich, Timo Rhiihonen als Fasolt, Marek Wojciechowski als Fafner und – eine wahre Offenbarung – die „Stimme der Schöpfung“, Rena Kleifeld als Erda.

Christa Habicht, 6. Oktober 2015

Fotos: Olaf Struck