Lübeck: „Der Wildschütz“

Anthony Pilavachi hat dem Theater Lübeck schon viele Sternstunden der Oper geschenkt, auch mit Albert Lortzings Meisterwerk „Der Wildschütz“ ist ihm ein solches gelungen. Lortzing dessen ambivalentes Potential immer noch allzu selten ausgeschöpft wird, dessen Spielopern immer noch unter einer vermufften Fünfziger Jahre Unterhaltungsdoktrin leiden, erfährt hier, neben der Bedienung der Komödie, endlich echte Wertschätzung. Gerade der Wildschütz ist ein richtig böses Stück, wirklich sympathische Persönlichkeiten tummeln sich nicht auf der Bühne, selbst die nette Baronin Freimann wird von einer aufgeklärten Schadenfreude angetrieben und gerät vor allem zur Anwältin ihrer eigenen Dinge; Evmorfia Metaxaki führt das Ensemble siegessicher mit strahlendem Sopran voll ironischer Siegesgewissheit an. Ebenso wichtig ihr Bruder, der Graf von Eberbach, in dieser Inszenierung, die passenderweise in Ostpreussen 1933 spielt ein unangenehmer Gutsbesitzer voller Herrenmentalität. Steffen Kubach führt ihn mit charaktervollem Bariton vor, das Glanzstück „Heiterkeit und Fröhlichkeit“ entlarvt die resignative Leere des Schürzenjäger, wie man sie noch nicht gehört hatte, eben ein „Glanzstück“ der Interpretation.

Doch noch einmal zurück zur Inszenierung, denn die ist, trotz der kritischen Haltung, einfach wunderschön anzusehen: Markus Meyer hat den ersten Teil in eine Schloßküche gesetzt, der zweite Teil ein privates Salon-Museum mit farbigen Vogelillustrationen, die wie Trophäen eines Sammlers wirken, hier haust auch die exaltierte Gräfin, traurig kinderlos dem theatralischen Griechentum verfallen, Annette Hörle spielt das menschlich nachvollziehbar mit schönem Mezzo. Tatjana Ivchinas Kostüme wissen sowohl zu gefallen, wie Zeit und Charakter herauszustellen. Mit schlankem,ansprechendem Tenor macht ihr der verkleidete Baron Kronthal den Hof, bevor ihn sich die Freimann schnappt. Daniel Jenz scheint an dem Abend stimmlich leicht angekratzt, gefällt aber trotzdem.

Ein weiteres Handlungszentrum ist der großartige Bass Taras Konoshenko, gesanglich ohne Tadel, von hervorragender Verständlichkeit, eigentlich ein Bonus der ganzen Aufführung bei allen Beteiligten, gerät sein Schulmeister Baculus zum Spagat zwischen Heinrich Manns Diederich Heßling („Der Untertan“) und dem Humor eines Louis de Funes, ihm zur zweckmäßigen Ehe an der Seite das süffisante Gretchen von Andrea Stadel, stimmlich echter Sopranluxus für diese gar nicht mal so klein empfundene Partie. Dazu die attraktive Inga Schäfer als recht erotische Nanette, wie der grandiose Charakterschauspieler Dietrich Neumann, dessen Hofmeister Pankratius gesanglich apart und spielerisch ohne Chargieren auskommt.

Auch der Wiederaufnahme merkt man die sorgfältige Einstudierung Andreas Wolfs an, oft lobt man Lortzings Nähe zu Mozart, doch bei Wolfs Dirigat entdeckt man schon in der brilliant gegebenen Ouvertüre eine Affinität zu durchaus Beethovenschen Furor, auch das hatte ich noch nie so erlebt. Das geht natürlich nur mit einem exzellenten Orchester, wie dem Philharmonischen der Hansestadt Lübeck. So pendelt die Musik zwischen moralischer Straffheit und romantisch zelebrierter Ironie. Groß besetzt mit Chor und Extrachor, sowie Kinderchor steht „das Volk“ auf der Bühne, szenisch fein und dediziert, musikalisch ohne Wünsche offenzulassen.

Wünschen täte man dem Theater Lübeck nur noch ein besser besuchtes Haus, als an diesem Abend, denn einen Lortzing dieser Güte in jeglicher Hinsicht erlebt man selten, zumal „nur“ bei einer Wiederaufnahme. Für mich ein ganz großer Abend, der mir erneut Augen und Ohren für den verkannten Albert Lortzing öffnet. Bitte unbedingt besuchen, diese Aufführung hat es absolut verdient.

Martin Freitag 30.12.14

Bilder: Thorsten Wulff mit frdl. Genehmigung des Theater Lübeck