Lübeck: „Die Gespenstersonate“

Besuchte Vorstellung: Premiere am 21. Mai 2021

Kammeroper von Aribert Reimann

„Angst beklemmt der Menschen Brust“

Einen „gespenstischen Opernabend“ versprach der Lübecker GMD und Operndirektor Stefan Vladar dem nach Kultur dürstenden Lübecker Publikum, das aufgrund des hervorragenden Hygienekonzepts des Hauses in großen Abständen voneinander endlich wieder im geliebten Jugendstil-Theater Platz nehmen durfte. Es hätten ein paar mehr sein dürfen, aber noch haben die Menschen Angst, wenngleich man sich leichter im Baumarkt infizieren kann als in der Oper. Angst bestimmt auch große Linien des nicht leicht zugänglichen Stückes, in dem sich eine surreale Handlung, eine Sprache voller Abgründe und Aribert Reimanns Musik mit ihren Brechungen, Härten und bis ans Schmerzhafte gehenden Auslotungen des gesanglich Möglichen kongenial zusammenpressen und miteinander reagieren. So geriet tatsächlich weniger gespenstisch als vielmehr ins Mark treffend lebendig, ums Leben kämpfend und energetisch aufgeladen, was die Inszenierung von Julian Pölsler dieser Kammeroper aus dem Jahre 1984 auf die seit dem Herbst verwaiste Lübecker Bühne brachte.

Der literarische Hintergrund dieser ungemein differenziert, weil auf jede Figur individuell auskomponierten Oper mit kammermusikalischer Besetzung ist Strindbergs gleichnamiges Theaterstück, das der Beethoven-Bewunderer in Anlehnung an dessen „Gespenstersonate“ und das „Geistertrio“ so nannte und dem Drama tatsächlich die Struktur einer Sonate gab. Reimann vollendet den Bogen und gibt dem Werk wieder die musikalische Sprache zurück, was zumal in den Partien, in denen das Schweigen thematisiert wird, dem Ganzen eine erweiterte Ebene verleiht, weit über das hinaus, was Sprache und gerade deren Ausbleiben nicht ausdrücken können. Das Libretto von Reimann und Uwe Schendel gibt die Struktur des Kammerspiels wieder, weicht aber in manchen Aspekten davon ab. Wesentlich und unverändert ist die surreale Darstellung eines psychischen und beziehungstechnischen Infernos, in dem ein unsympathischer, innerlich verrottender Patriarch, Direktor Hummel/Der Alte, mit den Gespenstern seiner eigenen Vergangenheit abrechnen will, aber von ebendiesen gerichtet wird.

Grandios fies und ungemein bühnenpräsent auch im Rollstuhl wird er von Otto Katzameier gegeben. Eine skurrile Essensgesellschaft, die aus einem Gemälde von James Ensor entsprungen oder eher entkrochen sein könnte, ist in einem Geflecht aus Bosheiten, alter Schuld, Verlogenheiten und Ängsten gefangen; man hat sich nichts zu sagen und alle sind in ihren toten Ritualen und Illusionen festgefault. Der angeblich adlige Oberst ist weder von edler Abkunft noch von Rang, was Wolfgang Schwaninger auch optisch überzeugend entblättert. Dessen Gattin schleicht wie eine lebende Tote mumienhaft durch ihr moderndes Sein; Karin Goltz verkörpert seelentief ihr dunkles, aber nach Wahrheit suchendes Wesen. Eine Facette dieser komplexen Gestalt ist eine Figur, die sich scheinbar für einen Papagei hält – girrend und glaubhaft verrückt durch Iris Meyer gesungen. Beider Tochter ist das Fräulein, ein mädchenhaft-sehnsüchtiges Geschöpf, dessen Träume nicht in Erfüllung gehen und das an der Fauligkeit der ganzen Gesellschaft zugrunde geht; Andrea Stadel realisiert einfühlsam ihre traurige Existenz. Star des Abends ist Yoonki Baek als metaphysisch begabter Student Arkenholz, der versucht zu helfen, instrumentalisiert wird, sich in das Fräulein verliebt und schließlich feststellen muß, daß er hier weder Liebe noch Wahrheit oder Erlösung erlangen kann. Die Rolle ist gnadenlos anspruchsvoll, aber auch die extremen Höhen, für die man eher eine Altus-Kopfstimme wählen würde, meistert Baek ohne Anstrengung und jegliches Quetschen.

Vom Philharmonischen Orchester der Hansestadt Lübeck ist man seit Jahren Erstklassiges gewohnt. Andreas Wolf leitet den reduzierten Klangkörper souverän; die Partitur hat es in sich, weil sie so viele Klangfarben und figurenbezogene Zuschnitte erfordert. Dieses Werk ist keine leichtverdauliche Kost, aber faszinierend. Zu seinem mitunter rätselhaft-symbolistischem Charakter paßt die Ausstattung von Roy Spahn, dessen bildmächtige Installationen mitunter leitmotivisch den Text illustrieren oder ihn erweitern. Die vom Fräulein gepflegten und geliebten Hyazinthen erscheinen plastisch und riesig über den Köpfen der metaphorisch unterirdischen Tischgesellschaft, die innerlich abgestorben wie eine Gemeinschaft von lebendig Begrabenen die Radieschen bzw. die Hyazinthenwurzeln von unten betrachtet.

Eine solche Riesenblume senkt sich schließlich herab, während Arkenholz dem Fräulein die mythische Bedeutung der Hyazinthe erklärt und die junge Frau deren Farbsymbolik erläutert. Diese romantisch überhöhte Vereinigung ist trügerisch wie die Pflanze selbst, denn sie ist einerseits Sinnbild des Glücks und der Liebe, andererseits steht sie für die Totenklage Apolls über den versehentlich getöteten Geliebten Hyakinthos, aus dessen Blut sie erwuchs. Ihre Blütenblätter bilden den Klageruf des trauernden Gottes.

Das prachtvolle Blumenkleid des Fräuleins sticht aus dem trostlosen Geisterfummel der morbiden Gesellschaft heraus; auch äußerlich verbindet sie nichts, denn sie tragen „Kostüme, die keine gemeinsame Zeit teilen“ (O-Ton Roy Spahn).

Große Banner mit Christusdarstellungen und griechischen Buchstaben, die keinen Sinn ergeben, symbolisieren vielleicht die Hoffnung auf eine Erlösung, die aber in bloßen Ritualen erstarrt ist und deren Botschaft niemand mehr versteht. Sie erinnern an Totenfahnen, die Archäologen manchmal in Grüften finden und deren Texte so unleserlich geworden sind, daß die Erwartung einer besseren Welt nur noch kryptisch erahnbar ist. Die Hoffnung, aus all dieser Düsternis herauszukommen, flirrt sanft durch die letzten Worte des Studenten und daß Angst kein guter Ratgeber ist, haben wir – hoffentlich – alle in den vergangenen anderthalb Jahren gelernt. Tatsächlich war es nicht nur Erleichterung darüber, daß das Lübecker Haus wieder aufgemacht hat, sondern echte Begeisterung, die den Applaus bestimmte: herzlich und langanhaltend.

Andreas Ströbl, 23.05.2021

Bilder (c) Musiktheater Lübeck/Olaf Malzahn