Lübeck: „Unter die Haut“

Besuchte Vorstellung: Premiere am 19. September 2020

Ein Galaabend des Musiktheaters Lübeck

Nach einem sehr guten Essen fragt man sich manchmal, ob die Küche so herausragend war oder ob es auch daran lag, daß man schon den ganzen Tag nichts gegessen hatte. In der Tat zeigte das Lübecker Publikum am Samstagabend, daß es Hunger nach seinem Musiktheater hatte, denn das große Haus war sehr gut besucht. Eine genaue Einschätzung fällt schwer, weil das gut durchdachte Sicherheitskonzept des Theaters viele leere Reihen und Sitzplätze zwischen den Besuchern vorsieht. Man darf sich sicher fühlen im Lübecker Theater und wünscht dem Haus, daß das Konzept und damit das Angebot in allen Sparten entsprechend angstfrei wahrgenommen wird.

Zur musikalischen Küche: Es gab zahlreiche Sternenköche und die servierten ein erstklassiges Menü. „Zusammenrücken“ war als Devise ausgegeben worden und das war im übertragenen Sinn zu verstehen. Ein mögliches Gefühl des Vakuums, das durch die leeren Plätze und die vorgeschriebenen Abstände zwischen den Künstlern hätte aufkommen können, hatte die Lübecker Leitung klug ausgeschaltet. Das begann schon im gratis verteilten Programmheft mit den großformatigen Portraitphotos der Mitwirkenden, die auch im Aufgang zu sehen sind, und deren persönlichen Äußerungen zu ihrer Kunst. Dadurch wurde Nähe und individuelle Begegnung vermittelt. Eine ausgesprochen reizvoll zusammengestellte Mischung aus bekannten und weniger gehörten Musikstücken sowie die launige Moderation durch die Schauspielerin Sara Wortmann, den Künstlerischen Betriebsdirektor Bernd Reiner Krieger und den Sänger Steffen Kubach füllten jede mögliche Leerstelle mit dichter, qualitätvoller Unterhaltung. Das Motto „Unter die Haut“ beschwor schließlich nicht nur Nähe, sondern das, was Ausführende und Rezipienten seit dem Frühjahr vermissen: die intensivste Vermittlung von Kunst, die ins Innerste dringt. „Wir lassen uns nicht unterkriegen“ war die kämpferische Ansage, allerdings unter dem Primat der Vernunft mit Berücksichtigung aller mitunter lebenswichtigen Hygienerichtlinien.

Wer Stefan Vladar als GMD hat, kann schon kaum mehr etwas falsch machen. Die unter seiner Leitung seit einem Jahr über sich hinausgewachsenen Musikerinnen und Musiker des Philharmonischen Orchesters der Hansestadt ließen Brittens „Four Sea Interludes,“, die den Abend leitmotivisch durchzogen, wie impressionistische Gemälde erstrahlen, mit all ihrem flirrenden Sonnenlicht auf dem Wasser, den Hafengeräuschen und wogenden Wellen, dem mächtigen Sturm. Allein dafür hatte sich der Abend schon gelohnt.

Der war wie bereits zur ersten Opernpremiere am 28. August mit Humor gewürzt, einer guten Ingredienz gegen Corona-Depression. Sara Wortmann bewies mit „Send in the Clowns“ von Steven Sondheim, daß sie auch eine talentierte Musical-Sängerin ist. Dazu rollten die Solistinnen und Solisten mit roten Clownsnasen und passenden Hütchen die unvermeidlichen Trennwände aus Plexiglas auf die Bühne. „Champagner!“ hallte es dann mit Strauss´ „Fledermaus“ durch den Saal und die Sopranistin Evmorfia Metaxaki ließ es, wie nicht anders von ihr erwartet, auch stimmlich als Prinz Orlofsky knallen, accompagniert von Nataliya Bogdanova (Sopran) als Adele und Yoonki Baek (Tenor) als Eisenstein. Anschließend gab der Bariton Johan Hyunbong Choi einen entschlossenen, zupackenden Escamillo aus Bizets „Carmen“, gefolgt vom Ochs-Monolog aus Strauss´ „Rosenkavalier“. Rúni Brattabergs Baß geht in seinen fülligen, schweren Tiefen schon als profundo durch. In Jeletzkis Arie aus Tschaikowskys „Pique Dame“ zeigte der Bariton Gerard Quinn, daß er auch das russische Fach beherrscht, wenngleich der große weiche Bogen fehlte. Die Sopranistin María Fernanda Castillo als Mimi und Yoonki Baek als Rodolfo aus Puccinis „La Bohème“ spielten souverän mit der Corona-Trennscheibe wie ein Paar, das bei einer Besuchsstunde im Gefängnis die direkte Berührung meiden muß und das kalte Glas mit ihrer Liebe durchdringt. Wiederum Puccini gab es mit Evmorfia Metaxaki als Lauretta aus „Gianni Schicchi“, deren berühmte Arie sie mit Hingabe sang. Leidenschaftlich war auch Yoonki Baeks Cavaradossi aus „Tosca“, mit dem der Puccini-Reigen beschlossen wurde.

Ihren großen Auftritt hatte María Fernanda Castillo dann als Leonora aus Verdis „La forza del destino“; die Arie durchdrang und füllte ungemein stark jeden Kubikzentimeter des Saales. Mit den Clowns und damit Humor wurde der Abend beschlossen, als die um die Sporanistin Virginia Felicitas Ferentschik, die Mezzosopranistin Milena Juhl und den Tenor Daniel Schliewa ergänzten Solistinnen und Solisten die muntere Ensemble-Schlußfuge aus Verdis „Falstaff“ gaben.

Dann zeigten die Lübecker, daß auch mit starker zahlenmäßiger Einschränkung ein brandender Applaus möglich ist. Der erstritt sich ein wunderbares „Meistersinger“-Quintett – es geht halt nicht ohne den „Meesta“! Das rhythmische Klatschen wollte nicht aufhören und gerne hätten der bejubelte Vladar und alle nicht minder mit Beifall bedachten Mitwirkenden eine zweite Zugabe vorbereiten dürfen. Die Lübecker hätten´s ihnen gedankt! Man wünscht den weiteren Vorstellungen ebensoviel Erfolg.

Andreas Ströbl 20.9.2020

Bilder (c) Musiktheater Lübeck / Olaf Malzahn