Wie sag ich‘s meinem Kinde? Oder anders: Wie bringe ich den höchst engagierten Sängerinnen und Sängern, aber auch dem hörbar und sichtlich begeisterten Regensburger Publikum nahe, dass es dem angereisten Rezensenten nicht gar so gefallen hat? Wie kann ich andeuten, dass die sog. Standing Ovations, die für außerordentliche Kunstleistungen reserviert sein sollten, den Opernfreund auch am Abend des 26. Oktober 2024 verwunderten?
Natürlich: Dass sich ein wirklich kleines Haus (ich saß in der 11., und damit bereits letzten Parkett-Reihe) ein Großwerk vornimmt, um endlich wieder ein chef d‘oeuvre der Opern- und Musikgeschichte live und ungestrichen zu bringen, ist verständlich. Dass man es nur dann spielen kann, wenn man Gäste für die beiden Hauptpartien einlädt, ist nur zu verständlich (auch wenn kleine Häuser bisweilen große Partien adäquat zu besetzen vermögen) – und dass man es ansetzt, wenn man nach vielen Tristanlosen Jahren einen Tristan und eine Isolde für ein paar Aufführungen bezahlen kann, ist nachvollziehbar. Die Frage bleibt nur, ob man den Tristan wirklich spielen sollte, wenn man für die immerhin fünf Hauptrollen Kompromisse eingehen muss, die, wenn man genau hinhört, leicht bemerkbar sind. Nächste Frage: Muss, ja darf man die Besetzung eines der Hauptwerke der neueren Musikgeschichte mit jener vergleichen, die – in der Regel – an größeren Häusern auftreten? Vergleicht man nicht Äpfel mit Birnen, wenn man Regensburg mit Berlin, Wien, Hamburg oder New York parallelisiert? Jein – denn bei Werken wie dem Tristan (aber welche Oper ist schon „wie“ der Tristan…), ja: bei ausnahmslos jeder Aufführung einer guten, ja: selbst bei jeder minder guten Oper (und bei diesen ganz besonders), sollten zuallererst die Stimmen stimmen. Hat Wagner selbst auch, worauf der Dramaturg Ronny Scholz in seiner Einführung wieder, vermutlich ohne Hinterlist, hinweist, gemeint, dass beim Tristan nur mittelmäßige Aufführungen taugen würden (vollständig gute würden die Leute verrückt machen), so sollte das „Opus metaphysicum“ (O-Ton Thomas Mann) natürlich nicht mittelmäßig, sondern unmittelbar ansprechend realisiert werden. Und kann man über eine wie auch immer geartete Regie immer streiten, ist dies ab einem bestimmbaren Punkt in vokaltechnischer und -ästhetischer Hinsicht kaum noch möglich. Dafür benötigt man, so bitter es auch ist, nicht einmal die Erinnerung an grandiose Aufführungen, hinreißende Sänger und Sängerinnen und große Häuser, in denen die meisten oder, wenn‘s glückt, alle fünf Hauptpartien gut und richtig besetzt wurden und werden.
So viel als notwendiger theoretischer Vorspann zu meiner persönlichen Einschätzung des neuen Regensburger Tristan. Es ist mir – ich bedauere das zutiefst – leider nicht möglich, die Besetzung der Isolde, der Brangäne und des Marke über den grünen Klee zu loben, auch wenn der Einsatz durch den Gast und die beiden Hausmitglieder zunächst bewundernswert ist. Kirstin Sharpins Isolde ist leider, leider immer nur dann gut, also wohltönend, wenn sie sich im Piano- und Mezzoforte-Bereich befindet. Dort gestaltet sie die Partie als energische wie empfindsame Frau, die weite Teile des ersten und zweiten Akts zu tragen weiß, doch fallen auch die grell detonierenden Spitzentöne, bis tief in den Liebestod hinein, ins Gewicht. Ein Ausgleich mit dem wohlproportionierten, gelind charakteristischen und gut fokussierenden Tenor von Corby Welch, der noch das schmerzerfüllt-depressive Pathos des Schlussakts souverän, aber nicht überexpressiv-naturalistisch gestaltet, scheint an diesen nicht so wenigen wie entscheidenden Stellen nicht möglich zu sein, so dass mein Eindruck dieser Vokal-Interpretation schon am Ende des ersten Aufzugs zwiespältig ausfällt. Ebenso problematisch: die Brangäne der Svitlana Slyvia. Muss eine Brangäne so oft altjüngferlich-ältlich, hier auch leider relativ textunverständlich klingen? Kann man sie nicht öfter mit tragenden, lyrischen Sopranen oder Mezzos besetzen? Es scheint offensichtlich ein Problem zu sein; insofern steht Regensburg nicht allein. Schade auch, aber das geht auf das Konto der Regie, dass die beiden Brangäne-Rufe in Regensburg ihre Wirkung verlieren, weil der Regisseur Dennis Krauß die Sängerin auf die Brücke, also mitten auf die Bühne stellte. Damit geht, natürlich, die Magie der in den Orchesterklang subtil eingebetteten Fernstimme verloren. Es passt allerdings zur Grundidee der Inszenierung, in der nicht irgendeine „Romantik“, sondern ein Realismus behauptet wird, der sich aus einer Kritik an der Entstehungszeit des Werkes speist; dass König Marke wie ein Wiedergänger Otto Wesendoncks aussieht, dürfte kein Zufall sein.
Marke wird von Roger Krebs gesungen; man wünscht dem Sänger ein Tonhöhenmesser und stärkere Nerven beim Aussingen des Monologs, der bruchlos lyrisch und gleichzeitig markant zu klingen hat. Am Ende bleibt auf der stimmlichen Habenseite der gute Kurwenal des Seymur Karimov, der mit seinem prägnant-heldischen Ton die Partie glänzend gestaltet, wenn man von einigen Artikulationstrübungen absieht. Der Beckmesser im Opernfreund würde nicht darauf hinweisen, wenn Wagner nicht selbst, womit er nur Recht hatte, bei der musikalischen Interpretation seiner Werke völlige Deutlichkeit verlangte. In diesem Sinn lässt das Philharmonische Orchester Regensburg unter seinem GMD Stefan Veselka nichts zu wünschen übrig. Die Deutung der Partitur aus dem Geist totaler klanglicher Klarheit, Farbigkeit und theatraler Stringenz ist schlicht großartig, was langsame Tempi, wie beim Erwachen Tristans, nicht ausschließt. Über die beiden Streichersoli und das Englischhorn wie die Holztrompete des 3. Aufzugs, auch über die anderen Soli muss man schon deshalb nicht sprechen, d. h: Auch sie waren von jener Güte, die der Tristan-Freund sich vor der Vorstellung erhofft. Und Hany Abdelzaher ist als Junger Seemann und Hirte so verlässlich wie der Steuermann des Michael Daub und der Melot Benedikt Eders.
Inszenatorisch ist festzuhalten, dass Krauß mit Hilfe seines Bühnenraum und Kostümgestalters Kristopher Kempf die Handlung in einen angerosteten Schiffsbunker steckte, der sich im Verlauf der drei Akte zusehends lichtet, um am Ende so etwas wie einen lichterfüllten Freiraum zu präsentieren, in dem es sich endlich ausgeflimmert hat. Die aus- und angeknipsten Neonstangen erinnern an Anna Viehbrocks Neonflimmereien in Christoph Marthalers technizistisch-symbolistischer Bayreuther Inszenierung, das Personal des Matrosenchors im Schiff an Werner Schroeters Düsseldorfer Tristan-Inszenierung als Koppelung von Wagner mit Eisenstein: Panzerkreuzer Potemkin meets Tristan und Isolde. Isolde ist also eine geraubte Braut, die – ein Regieeinfall – gewaltsam in den Schiffsbunker gezerrt wird; die Matrosen ist eine schwer bewaffnete Garde, angeführt von einem eher bürgerlich aussehenden Gentleman, der doch selbst zum Gewehr greift und im letzten Gefecht Kurwenal erschießt. Der Chor als bewaffnete Masse, Tristan und Isolde, die im zweiten Akt von nicht weniger als sieben MP-Männern bedroht werden: Man kann das machen, wenn man den militärischen Aspekt des Werks betont, auch wenn die herumwuselnden und bisweilen lärmenden, wenn auch von Lucia Birzer gut einstudierten Männer dem Kammerspiel von Tristan und Isolde (und Marke und Brangäne und Kurwenal) nichts Wesentliches hinzufügen. Immerhin wird der imperialistische Raum beschworen, der im Hintergrund des Texts herumschwirren mag, worauf Asuka Xamazaki 2013 in ihrem Buch Das deutsche Nationalbewusstsein des 19. Jahrhunderts und Richard Wagners „Tristan und Isolde“ spekulativ aufmerksam gemacht hat. Gewiss: die Jagdmusik des 2. Aufzugs eignet sich glänzend für eine Jagd auf Menschen, auch wenn innerhalb der brutalisierten Szene das Wagnersche Dur denn doch so befremden mag wie Markes persönlicher Schusswaffeneinsatz. In Wagners Text ist, anders als in den Übertiteln, definitiv nicht vom „Schießen“ die Rede. Honi soit qui mal y pense…
Konventionell ist die Einnahme des Tranks: egal, um welchen es sich dabei handelt. Brangänes seltsames, an Tristan gerichtetes Lächeln lässt die Vermutung zu, dass es sich um eine absichtliche Verwechslung des sog. Todes- mit dem sog. Liebestrank handeln muss. Der Rest ist eine plötzlich Zueinanderwendung, ein Knien Tristans vor Isolde, auf das man nach dem vorangegangenen, eher kühlen Verlauf der Gespräche, der die spannende Vorgeschichte zwischen Tristan und Isolde kaum andeuteten, nicht vorbereitet war. Ein weiterer Regieeinfall: Tristans (und Kurwenals) Salutieren vor dem am Ende des 1. Aufzugs eintreffenden Königs und Isoldes Reaktion: der totale Schock. Das ist interessant, aber willkürlich, weil in Bezug auf den nächsten Akt auch kaum verständlich. Oder hat Kurwenal Tristan schnell dazu gebracht, so zu tun als ob? Möglich, aber der Rezensent hat‘s, wieso auch immer, nicht gesehen. Eine Geschmacksfrage bleibt zuletzt, ob der Embonpoint des Tristan-Darstellers wirklich wieder mit dem bekannten wie geschmacksfreien Unterhemd ausgestattet werden musste – aber auch sie scheint mir weniger wichtig zu sein als die nach den vokalen Möglichkeiten des Regensburger Hauses. Der Rest ist ein „Liebestod“ mit einem finalen Zusammenbruch, der tatsächlich unvermittelt erfolgt. Und vom Bühnenhimmel regnen einige Federn, die wir schon während der symbolistischen Vorspiele der einzelnen Akte in einer der bewusst unscharfen Projektionen zweier weißer Vögel sahen.
Wie gesagt: sog. Standing Ovations nach dem 3. Aufzug. Man gönnt es, das sei ohne Ironie gesagt, den Regensburger Opernfreunden.
Frank Piontek, 27. Oktober 2024
Tristan und Isolde
Richard Wagner
Theater Regensburg
Premiere: 28. September 2024
Besuchte Vorstellung: 27. Oktober 2024
Regie: Dennis Krauß
Musikalische Leitung: Stefan Veselke
Philharmonisches Orchester Regensburg