Als ich mir die Pressebilder dieser Neuproduktion von Rossinis letzter Oper ansah, dachte ich: Oh wow, eine Grand Opéra, inszeniert im Stil einer Lichtinstallation à la Robert Wilson, das könnte interessant werden. Die Ernüchterung folgte auf dem Fuß: Auf der leeren Bühne von Jamie Vartan sieht man vier Halbrahmen, oben offen, unten die Pfeiler gerundet, die Betonarchitektur des Theaters St. Gallen fortführend, der hintere Teil durch einen Gazevorhang abgetrennt. Vier Frauen sitzen auf dieser leeren Bühne; sie entpuppen sich als Tänzerinnen, welche die Stimmungen von Rossinis bekannter Wunschkonzert-Ouvertüre in ihrem Tanz aufnehmen. Eine Bitte an die lieben Regie-Leitungsteams: Wenn die Bebilderungen einer Ouvertüre keinen inhaltlichen bringen, dann lasst den Vorhang zur Ouvertüre lieber geschlossen. Denn der Tanz dieser vier Damen war nun wirklich von peinlicher Naivität, eine nichtssagende Verdoppelung der Emotionen, welche die Ouvertüre transportiert. Das hätte man sich und dem Publikum ersparen sollen.
Im Verlauf des Abend treten diese vier Tänzerinnen immer wieder auf, oftmals zugegebenermaßen poetisch bereichernd, so etwa als Gämsen – die habsburgischen Jäger hatten damit geprahlt, alle Waldtiere erlegt zu haben – in den Waldszenen und im Schlussbild, oder als blutüberströmte Opfer der habsburgischen roten Raubvögel, welche die leidenden Urner mit ihren gigantischen Schnäbeln vergewaltigt und malträtiert hatten, als archaisch maskierte Hutzelweiber, als Trägerinnen von Schiffs-Atrappen im Sturm auf dem Urnersee. Wenn der Gazevorhang nach der Ouvertüre sich dann hebt, gibt er den Blick auf die durch Leuchtröhren dargestellten Konturen eines Horizonts aus Berggipfeln frei. Das ist ausgezeichnet gemacht, reduced to the max, und doch stimmig und würde durch das Fehlen von Requisiten eigentlich eine große Spielfläche für den Chor abgeben.
Leider wird der Chor oftmals ziemlich trottelig bewegt, gerade in der ländlichen Dreifachhochzeit ist das ein dermaßen tapsiges, unbeholfenes Getrampel, dass man auf die Idee kommt, dem Regisseur Julien Chavaz sei es darum gegangen, die Folgen der jahrhundertelangen Inzucht in diesem abgeschiedenen Bergtal aufzuzeigen. Gelungener ist dann die Szene auf dem Platz in Altorf, wo die Bergler nicht einem Hut, sondern einesm gigantischen, roten Greif die Referenz erweisen müssen. Gesler – ich übernehme die Schreibweise der Namen dem französischen Libretto – räkelt sich gelangweilt auf einem hohen roten Schiedsrichterstuhl, wie bei einem Tennismatch.
Der Apfelschuss wird komplett pantomimisch stilisiert dargestellt, mit einem riesigen Pfeilbogen und einem tönernen Apfel, der Jemmy über den Kopf gestülpt wird. Wenn Tell dann trifft, gibt’s keinen theatralischen Effekt. Sehr stimmig kommen die Sturmszene auf dem Urnersee mit dem Spiel der schwebenden Leuchtröhren und den stilisierten Boots-Atrappen und die Schlussszene daher. Das Lichtdesign von Sinéad Wallace und Andreas Enzler überzeugt- es gibt fantastische Licht- und Schattenwürfe zu bestaunen, die Farbwechsel auf der Rückwand schaffen eindringliche Stimmungen, davon hätte man gerne noch mehr gesehen. Im Bewegungsvokabular gibt es einige eher belanglose Stereotypen oder gar lächerliche Verniedlichungen zu sehen, immer wieder gereckte Fäuste und die Bewaffnung mit dürren Holzstöckchen für die Eidgenossen auf dem Rütli. Durch die Mischung aus abstrakter Stilisierung und etwas tumbem Bewegungsvokabular kann keine emotionale Nähe zu den Protagonisten aufgebaut werden, man verfolgt die Handlung eher distanziert. Als ausgesprochen treffend empfand ich die Kostümdramaturgie von Severine Besson: Gebrochene, pastellartige Weiß- und Beigetöne für die Bergler, blutiges Rot für die habsburgischen Besatzer.
Rossinis letzte Oper ist nicht nur – aber auch – eine große Chor Oper. Der Chor des Theaters St. Gallen und der Opernchor St. Gallen füllen ihre Rolle als gewichtiger Handlungsträger mit klanglicher Raffinesse und – wo nötig – unter die Haut gehender Durchschlagskraft aus. Das klingt alles überragend schön und mit Seele erfüllt. Der neue Chordirektor Filip Paluchowski hat großartige Vorbereitungsarbeit geleistet – genauso wie der Dirigent Michael Balke mit dem Sinfonieorchester St. Gallen, welches Rossinis wunderbare Melodien mit differenzierter Dynamik und herrlichen Phrasen zum Erklingen bringt. Solocello und Flöte verdienen ganz besondere Erwähnung, aber auch das Blech spielt blitzsauber. Da findet unter Balkes sorgsamer Leitung das so typisch Federnde Rossinis genauso statt wie die auf Donizetti und Verdi vorausweisenden, dramatischen Zuspitzungen.
Mit ausgezeichneten Stimmen sind die anspruchsvollen Rollen dieser großen Oper besetzt: In der Titelpartie erlebt man Theodore Platt mit seinem weichen, wunderbar balsamisch klingenden Bariton, kein kriegerischer Superheld, eher ein fürsorglicher, Ruhe ausstrahlender Softie, der sich aber trotzdem (oder gerade eben) auf diese Weise Respekt erkämpft. Sein Sois immobile in der Apfelschuss-Szene ist von überragender Schönheit. Mit Jonah Hoskins in der Rolle des Arnold Melcthal darf man in St. Gallen einen jungen Tenor erleben, von dem man bestimmt noch viel hören und lesen wird: Was für eine herausragend und stilsicher geführte Stimme, mit leuchtenden Spitzentönen. Sowohl für seine große Arie im vierten Akt Asile héréditaire als auch für die ausladenden Duette mit Mathilde und Tell verfügt er über den großen Atem und die überlegene Phrasierungskunst, welche die Partie erfordert. Nur schon, um diese beiden Sänger zu erleben lohnt sich der Ausflug nach St. Gallen.
Dazu gesellt sich mit Athanasia Zöhner als Mathilde eine stimmstarke Sopranistin, welche mittels differenzierter Dynamik sowohl die diffizile Beziehung zu Melcthal auszuloten vermag als auch ihrem energischen Einsatz für Jemmy und dem Aufstand gegen Gesler am Ende der Apfelschussszene das notwendige drastische Gewicht zu verleihen im Stande ist. In den dramatischen Ausbrüchen mag sie für meinen Geschmack ab und an etwas zu metallisch klingen, aber sie bleibt stets sicher auf Linie, verfügt über zarte Piani, umflort von dezentem, angenehmem Vibrato. Ihre Auftrittsarie Sombre forêt zu Beginn des zweiten Aktes gelingt ihr vortrefflich. Verspielt und keck, mit wunderbar leuchtendem, hellem Sopran begeistert Kali Hardwick in der Hosenrolle als übermütiger Jemmy und bereichert auch mit glockenartigen Tönen die Ensembles. Grossen Eindruck macht der stimmstarke Christoph Sokolowski als Rodolphe, Geslers Mann fürs Grobe. Kristján Jóhannesson gibt einen kernig singenden, gekonnt sadistisch und menschenverachtend agierenden Gesler, der seine morbide Lust am Quälen hinter einer diabolischen Lässigkeit versteckt.
Sehr erfreut war man über die Rückkehr des ehemaligen Ensemblemitglieds Martin Summer ans Theater St. Gallen. Er verleiht dem kurzen Auftritt des alten Melcthal im ersten Akt bassgewaltiges Gewicht. Msimelelo Mbali singt einen warmstimmigen Walter Furst. Sarah Alexandra Hudarew ist als Tells Ehefrau Hedwige eine gute Besetzung. Aufhorchen lässt Riccardo Botta als Ruodi mit einer wunderbar höhensicheren Interpretation der zweistrophigen Ariette in der Eröffnungsszene. David Maze ist ein eindringlich gestaltender Leuthold und Andrzej Hutnik verleiht dem Jäger seinen sonoren Bass.
Am Ende, nach dem aufwühlenden Sturm, sieht man zwar nicht die Gletscher, den ruhigen See und die Sonnenstrahlen, die durch die Wolken auf die befriedete Landschaft scheinen, doch Rossinis so überwältigende Klänge vermögen das alles akustisch zu evozieren: Wenn Tell anhebt mit Tout change et grandit dans ces lieux, das gesamte Ensemble (natürlich ohne Gesler und Rodolphe) einstimmt und mit tief zu Herzen gehender Emphase die neu gewonnene Freiheit begrüßt, dann preist man innerlich Rossini, den Schöpfer dieser gewaltigen Musik – und man weiß, weshalb man Oper liebt.
Guillaume Tell
Gioachino Rossini
Theater St. Gallen
12. Mai 2024
Inszenierung: Julien Chavaz
Musikalische Leitung: Michael Balke
Sinfonieorchester St. Gallen