Ulm: „La Traviata“

Premiere: 25. 9. 2014

Der Tod gewährt Aufschub

Zu einem großen Erfolg für alle Beteiligten geriet die Neuproduktion von Verdis „La Traviata“, mit der am Theater Ulm die neue Spielzeit eröffnet wurde. Matthias Kaiser ist eine Inszenierung gelungen, die für jeden Geschmack etwas bereithält. Er siedelt das Geschehen zwar in einem eher neutralen Ambiente an, tendiert dabei aber zum Hier und Heute. Violettas Krankenbett im dritten Akt beispielsweise würde ohne weiteres in eine zeitgenössische Klinik passen. Innerhalb eines pittoresken äußeren Rahmens wartet er mit modernen, konventionellen und symbolischen Elementen auf, woraus ein ansprechendes Stilgemisch resultiert.

Edith Lorans (Violetta)

Das Ganze spielt sich in einem in die Jahre gekommenen, zerfallenen Theater auf dem Theater ab. Der Staub der Jahrhunderte hat seine Spuren hinterlassen. Dieser nicht mehr neue Einfall ist immer wieder effektiv. Das ganze Leben ist Bühne und alle Frauen und Männer sind bloße Spieler, um es mal mit Shakespeare auszudrücken. Zentrales historisierendes Element des von Detlev Beaujean geschaffenen Bühnenbildes ist eine riesige barocke Krinoline, die im Lauf des Abends in mehreren Variationen erscheint. Wenn sich Violetta zum Brindisi auf sie stellt, wird deutlich, dass sie ihren Unterleib symbolisieren soll. Als Traviata später unter ihr hervortritt, trägt sie einen gleichartigen, von Angela C. Schuett kreierten Rock in normaler Größe, dem gleichsam die Funktion eines sie schützenden Harnisches zukommt. Auf der anderen Seite nimmt die Krinoline manchmal auch die Form eines Raumes an. Gleich im ersten Bild drängen sich die männlichen Partygäste in ihrem transparenten Inneren. Im zweiten Akt mutiert sie zu Violettas zweistöckigem Landhaus, in dem der unten stehende Germont nachvollziehbar in einem kalten blauen und die im oberen Stock platzierte Violetta in einem warmen roten Licht erscheinen. Die Ausleuchtung des Bühnenraumes kann örtlich auch mal wechseln. Dann dominiert oben die kalte und unten die warme Farbe.

Edith Lorans (Violetta), Kwang-Keun Lee (Germont)

In diesem äußeren Rahmen gilt Kaisers Hauptaufmerksamkeit der Protagonistin. Ihr nimmt er sich mit großer Liebe an und definiert mit großem Können und einer einfühlsamen Personenführung eine deutliche Antithese zwischen der sich für Geld verkaufenden Prostituierten und der gebrochenen kranken Frau. Die Tuberkulose hat ihrer Schönheit nicht geschadet. Das Gegenteil ist der Fall. Die tödliche Krankheit hat sie eher noch attraktiver gemacht, ihr Erscheinungsbild wirkt in keinster Weise morbid. Rein äußerlich ist der Körper dieser Frau nicht dem Verfall preisgegeben, sondern wirkt immer noch sehr anziehend. Es mag absurd klingen, aber durch die Schwindsucht erfährt ihre Schönheit sogar noch eine Steigerung.

Thomas Schön (Der Tod), Edith Lorans (Violetta)

Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht weiter verwunderlich, dass der Tod ihr Aufschub gewährt. Bereits während des ausinszenierten Vorspiels nähert sich Traviata im Leopardenmantel – dieser steht für ihr Leben als leichtes Mädchen – und am Tropf hängend dem im linken Bereich der Bühne friedlich auf einem Stuhl sitzenden Sensenmann. Sie ist bereit zu sterben, wird von ihm aber noch nicht mitgenommen. Er ist in sie genauso verliebt wie Alfredo, dem er – abgesehen von seinem Totenschädel – kostümmäßig angeglichen ist. Von seinem eher ruhigen, geduldigen Wesen her unterscheidet er sich aber krass von dem ungestümen jungen Germont, der sich durch seinen altmodischen Gehrock geradezu auffällig von den anderen, in moderne Anzüge gekleideten männlichen Mitgliedern der Gemeinschaft unterscheidet. Er scheint gegenüber der übrigen Herrenliga etwas zurückgeblieben und ein Außenseiter zu sein. Auf der anderen Seite billigt der Regisseur ihm edle Charakterzüge zu, die er den übrigen Salonlöwen verweigert. Hier bringt Kaiser gekonnt einen Schuss Gesellschaftskritik mit ins Spiel. Ihm geht es nicht nur um das Aufbrechen von äußeren, sondern auch von inneren Fassaden. Mit einem interessanten Aspekt wartet er am Ende auf: Er lässt Traviata verfrüht sterben und sie den Rest ihrer Partie aus dem Jenseits gleichsam als Reminiszenz auf ihr nun erloschenes Leben singen – ein sehr rührendes Vermächtnis für die Hinterbliebenen.

Andre Nevans (Alfredo), Edith Lorans (Violetta)

Kaiser hat seine gelungene Konzeption ganz auf Edith Lorans zugeschnitten, die heuer zum ersten Mal die Violetta sang. Ihr ist ein gelungenes Debüt zu bescheinigen. Sie hat sich die Sichtweise des Regisseurs voll zu eigen gemacht und darstellerisch hervorragend umgesetzt. Mit ihrem ausgeprägten, intensiven und nuancenreichen Spiel gelang ihr ein eindringliches Rollenportrait. Auch gesanglich vermochte sie mit ihrem wunderbar italienisch fokussierten, warmen und ausdrucksstarken Sopran für sich einzunehmen. Lyrische Innigkeit und Beseeltheit des Ausdrucks standen ihr in demselben Maße zur Verfügung wie lockere Koloraturgewandtheit und dramatischer Aplomb. Indes setzte sie das hohe es am Schluss des „Sempre libera“ etwas zu vorsichtig an. Das hat man von anderen Interpretinnen schon fulminanter gehört. Eine kleine Unebenheit am Ende ihres Duettes mit Germont im zweiten Akt fällt angesichts der beeindruckenden Gesamtleistung nicht ins Gewicht. In dem schon oft bewährten Kwang-Keun Lee war Alfredos Vater in trefflichen Händen. Wie Frau Lorans verfügt auch sein voll und rund klingender Bariton über ein prächtiges appoggiare la voce, eine hervorragende Linienführung, einen großen Farbenreichtum und eine einfühlsame Pianokultur – alles Aspekte, die seine Anlage des Germont recht vielschichtig erscheinen ließen. An das hohe Niveau seiner beiden Mitstreiter in den Hauptpartien kam der Alfredo von Andre Nevans – noch – nicht heran. Im Augenblick wirkt der durchaus nicht unangenehme Tenor des Hausdebütanten noch etwas zu hell und könnte mehr Sonorität und Tiefgründigkeit vertragen. Er wird sich aber sicher noch entwickeln. An diesem Abend gab er ein Versprechen für die Zukunft ab. Profunde Stimmmaterialien brachten Eleonora Halbert und I Chiao Shih für die Annina und die Flora mit. Alexander Schröder war ein ausgesprochen dünn singender Gaston. Lediglich mittelmäßig schnitten auch Don Lee (Dr. Grenvil), Michael Burow-Geier (Baron Douphol), Joachim Pieczyk (Marquis d’ Obigny/Kommissionär/Diener bei Flora) und Rochus Bliesener (Giuseppe) ab. Als Tod geisterte der Schauspieler Thomas Schön durch das Geschehen.

Edith Lorans (Violetta), Andre Nevans (Alfredo), Herrenchor

Eine beachtliche Leistung erbrachten GMD Timo Handschuh und das Philharmonische Orchester der Stadt Ulm. Dirigent und Musiker warteten mit schöner Italianita und breit gesponnenen musikalischen Bögen auf. Wieder einmal war zu konstatieren, dass der Dirigent mit dem Orchester in den letzten Jahren eine vortreffliche Aufbauarbeit geleistet hat. An diesem Abend ging er sehr ausgeglichen ans Werk und steuerte die vielfachen Höhepunkte zwar recht prägnant an, hielt sie aber nicht so übermäßig lang aus, wie es andere Pultmeister oft gerne tun. Dafür wurden die extremen dynamischen Gegensätze sehr rasant ausgekostet. In Violettas Duett mit Germont gelang ihm das Kunststück, dem hier alles andere als alten Herrn trotz seiner herrlichen Kantilenen entsprechend seinem nicht gerade guten Charakter zu einer musikalisch distanzierten Auslotung zu führen.

Fazit: Eine gelungene, ansprechende Aufführung, deren Besuch durchaus empfohlen werden kann.

Ludwig Steinbach, 27. 9. 2014
Die Bilder stammen von Jochen Klenk