Toulouse: „L’Italiana in Algeri“

Vorstellung am 27. Mai 2016

Rossini-Experte im Orchestergraben und viel „Bunga-Bunga“ auf der Bühne

In deutschsprachigen Ländern kennt man das Théâtre du Capitole in Toulouse vor allem als französische Wagner-Hochburg, als unter der langen Intendanz von Nicolas Joël (1990-2009) hier ein „Ring“ aufgeführt wurde. Der Nachfolger von Joël (als dieser an die Pariser Oper wechselte), Frédéric Chambert, fügte dem deutschen Repertoire noch einige weniger bekannte Opern zu, wie 2014 die „Daphne“ von Richard Strauss, und will nun ältere Traditionen in Toulouse wiederaufnehmen. Denn 1836 wurde hier schon „L’italiana in Algeri“ gespielt, ein „Jugendwerk“ des damals gerade 21-jährigen Rossini, 1813 in weniger als einem Monat komponiert für das Teatro San Benedetto in Venedig und natürlich auch für die große Sängerin Marietta Marcolini, die schon einige Hauptrollen Rossinis gesungen hatte.

Das Capitole konnte nun die Sängerin Marianna Pizzolato verpflichten, die die anspruchsvolle Rolle der Isabella (der „Italienerin in Algier“) schon an vielen großen Opernhäusern gesungen hat, zuletzt noch diesen Frühling in Florenz, zusammen mit Pietro Spagnoli, der schon dreißig Jahre Rossini singt. Die beiden sind also als Isabella und Mustafà (der Bey von Algier) perfekt auf einander eingespielt und wurden wunderbar begleitet durch Antonio Fogliani, den sie schon vom Rossini-Festival in Pesaro kannten und der seit 2011 auch der musikalische Leiter des Rossini-Festivals in Bad Wildbad ist. Fogliani, der in Toulouse debütierte, dirigierte einen auffallend „klassischen“ Rossini. Er meinte in einem interessanten Interview für das Programmheft, dass „die Italienerin in Algier“ eine „Tochter von Haydn und Mozart“ ist. So erkannte man in der üblichen „Rossini-Agitation“ auch einige klassische Phrasen von Haydns „L’incontro improvviso“ (1775) und den Bassa-Chor mit „türkischer Banda“ aus Mozarts „Entführung aus dem Serail“ (1782). Das Orchestre national du Capitole spielte eine wirklich interessante Ouvertüre. Doch im Laufe des Abends wurden die Bläser offensichtlich müde, verloren einige Läufe an Präzision und gingen einige interessante Tempo-Angaben des Dirigenten verloren. Der Männerchor des Capitole (Leitung: Alfonso Caiani) fing auch sehr gut an und verlor ebenfalls an Präzision. Das kann jedoch auch an dem „Herumgehopse“ auf der Bühne gelegen haben.

Denn auch in Toulouse engagiert man inzwischen für die Musik wirkliche Experten und für die Inszenierung Opern-Fremde Künstler, von denen man sich eine „neue Sichtweise“ auf altbekannte Werke erhofft. In dieser Hinsicht wurden wir nicht enttäuscht und sahen Vieles, was wir noch nie in einer „L’italiana in Algeri“ und überhaupt auf einer Opernbühne gesehen haben. Laura Scozzi ist in Frankreich vor allem bekannt als langjährige Choreographin des Regisseurs Laurent Pelly, für den sie viele lustige Tanzeinlagen ausgedacht hat. 2008 debütierte sie in Nürnberg als Opernregisseurin und hat dort schon fünf Opern inszeniert. Scozzi verlegte die Handlung von Algerien nach Italien und gab dem Bey die sexuellen Vorlieben des Ex-Premiers Berlusconi, der – wie Mustafà – seiner angetrauten Gattin(en) etwas überdrüssig ist und von einer spritzigen Ausländerin träumt. Deswegen will Mustafà seine Frau Elvira mit seinem italienischen Sklaven Lindoro verheiraten. Doch dieser ist in die schöne Isabella verliebt, mit der in der Schlussszene aus dem Harem des Beys entflieht.

Der Opernabend fängt an mit Ausdruckstanz: Elodie Ménadier und Olivier Sferlazza kopulieren, schlagen sich und bringen sich auf verschiedene Arten um: mit Beilen, Schlachtermessern, Plastiksäcken etc. Sie präsentieren uns bei jedem Bühnenwechsel „Szenen einer Ehe“ und es fließt literweise Theaterblut. Die aufwendige und leider nicht geräuschlose Drehbühne von Natacha Le Guen de Kerneizon führt uns jedes Mal wieder ins Schlafzimmer des Beys, wo Mustafà akrobatischen und fantasievollen Sex hat mit sechs „Playgirls“, die man anscheinend im Pariser Crazy Horse ausgeliehen hat. Doch für diese „Bunga-Bunga“ müssen die Schönheiten sich mit allen möglichen Sado-Maso-Utensilien abmühen, die wir nicht weiter beschreiben wollen, da sie – nach unserer Meinung – nichts in diesem Stück und überhaupt auf einer Opernbühne zu suchen haben. Sehr befremdend auch der „tabledance“ von Manon Cassini, einer professionellen „stripteaseuse“, die bei Rossini genau so fehl am Platze scheint wie vor kurzem ein professioneller Pornoschauspieler in Wagners „Venusberg-Szene“ (auf einer anderen Opernbühne).

Die Vulgarität des Ganzen wurde noch unterstrichen durch die wenig eleganten Kostüme von Tal Shacham. Als Isabella in Lederdress auf der Bühne erschien, gab es den größten – sicher ungewollten – Lacheffekt des Abends. Denn Marianna Pizzolato sah in diesem Outfit einfach lächerlich aus und tat uns allen leid. Trotz Ledermaske und hinderlichem Gefuchtel mit ihrer Peitsche sang sie lupenreine Koloraturen, fand in jeder Reprise neue Farben und Verzierungen und zeigte sich als Rossini-Interpretin von internationalem Format. Leider sang Pietro Spagnoli als Bey nur ein einziges Duo mit ihr, denn die anderen Sänger – die alle in Toulouse debütierten – konnten den beiden nicht das Wasser reichen.

Als männliche Hauptrolle, Lindoro, hatte man den jungen Russen Maxim Mironov engagiert, einen „Senkrechtstarter“ mit offensichtlich einflussreicher Agentur, der seit dem Wettbewerb „Neue Stimmen“ überall engagiert wird. Doch was wir hier hörten war – für unsere Ohren – total ungenügend (in diesem Cast und für eine so große Bühne).

Auch der Rest der Besetzung überzeugte wenig – lag es an ihrem Debüt in Toulouse (die Akustik ist eher Sängerfreundlich) oder an der Inszenierung? Nur der Bariton Aimery Lefèvre, quasi im Ensemble in Toulouse, konnte als Handlanger Haly (und Mädchenbeschaffer des Beys) überzeugen. Im Januar 2017 wird diese Produktion im Staatstheater Nürnberg wieder aufgenommen (mit einer anderen Besetzung) und im November 2016 gibt es schon den nächsten Rossini in Toulouse: „Il Turco in Italia“ – wir sind gespannt!

Fotos (c) Théâtre du Capitole / Patrice Nin

Waldemar Kamer 29.5.16

Besonderer Dank an Merker-Online (Paris)