Zürich, Konzert: „Webern, Strauss, Bruckner“, Tonhalle-Orchester unter Paavo Järvi

So schwach besetzt habe in den großen Saal der Tonhalle Zürich bei einem Konzert des hauseigenen Orchesters unter seinem Chef Paavo Järvi noch nie erlebt. Ich kann mir auch nicht erklären, woran es gelegen haben mag. Alle drei aufgeführten Werke waren in der Epoche der Romantik (Bruckners 1. Sinfonie) oder der Spätromantik (Weberns Langsamer Satz, Strauss‘ 4 letzte Lieder) entstanden. Paavo Järvi wird für seine Bruckner-Einspielungen zu Recht von Publikum und Kritik gefeiert und mit Golda Schultz stand eine vielversprechende Sopranistin als Interpretin von Richard Strauss auf dem Podium. Trotzdem klafften riesige Lücken in den Sitzreihen. Es kann doch unmöglich am 30 Minuten späteren Konzertbeginn gelegen haben (wegen der in Zürich stattfindenden Rad-WM), dass das Publikum fernblieb. Sehr schade, denn so verpassten die Abwesenden eine begeisternde Interpretation von Bruckners erster Sinfonie in der „Linzer Fassung“. (Die Uraufführung von Bruckners 1. Sinfonie in Linz soll übrigens auch sehr schlecht besucht gewesen sein, wie man im Programmheft nachlesen konnte.)

Vor 10 Tagen hatte ich das Glück, Bruckners Erste in der ausverkauften Berliner Philharmonie mit Christian Thielemann und den Wiener Philharmonikern zu erleben. Thielemann bevorzugt zurzeit die Wiener Fassung dieser Sinfonie (in seiner Gesamteinspielung aller Bruckner-Sinfonien mit der Staatskapelle Dresden hatte er noch die Linzer-Fassung verwendet, in der neuen Gesamtedition mit den Wiener Philharmonikern nun die Wiener-Fassung). Paavo Järvi nun stellte die erste Fassung (mit kleineren Retuschen von 1877) zur Diskussion. Beide Fassungen haben meines Erachtens ihre Daseinsberechtigung in der Aufführungspraxis.

© Kaspar Sannemann

Während die „Linzer Fassung“ für mich etwas kompakter und stellenweise auch frischer, ungehobelter daherkommt, stellt die „Wiener Fassung“ mit ihren leichten Anpassungen in der Instrumentation und dem neu komponierten Überleitungsteil im dritten Satz eine geschliffenere Version dar. Im Gesamtaufbau unterscheiden sich die beiden Fassungen jedoch nur marginal. Järvi baut die Klangblöcke und deren Entladungen sehr stringent auf, diese Crescendi, dieses Aufbäumen und Zusammenfallen, sind überaus packend gestaltet, meist in der Reprise noch ein Stück effektvoller als in der Exposition, was gerade im ersten Satz zu beachtlichen Wow-Knallern führte.

Ehrlich gesagt ist das Adagio immer noch nicht meins, weder hier in der Linzer, noch vor 10 Tagen in Berlin in der Wienerfassung. Zwar zwingt Järvi mit seiner Interpretation zum genauen Hinhören, doch irgendwie schafft Bruckner es hier noch nicht ganz, als Meister des Adagios bezeichnet zu werden. Es dauert gut fünf Minuten etwas zerklüfteten Musizierens bis man zum ersten Mal in diesem langsamen Satz eine gerundete, elegische Steigerung zu hören bekommt. Aber schon bald wieder scheinen die Bögen zu zerbröseln, bevor wieder ein Kulminationspunkt (wenn auch in einer gewissen Simplizität) Eindruck zu wecken vermag. Ganz meisterhaft ist jedoch der diabolische dritte Satz, dieses herrlich schmissige Scherzo mit eingebettetem, lieblich-tänzerischem, von herrlichen Phrasen der Flöten umschmeicheltem Trio. Markant fährt das Blech des exzellent spielenden Tonhalle-Orchesters Zürich im Finalsatz ein, intoniert die Fanfaren mit gleißender Brillanz. Auf eine lange Generalpause folgen warmer Streicherklang und ausgedehnte, wunderschön gespielte Passagen der Holzbläser. Das Ende dann ein stetig an- und abflauender Sturm, der schließlich entfesselt seinen Höhepunkt erreicht. Ganz großartig zu erleben, wie Järvi diese Kräfte sich organisch entwickeln lässt, so dass man nie das Gefühl hat, erschlagen zu werden.

Der langsame Satz, den Webern für ein geplantes, aber nie vollendetes Streichquartett komponierte, stellt einen der absolut schönsten und ergreifendsten musikalischen Einfälle der Spätromantik dar. Zur Lebenszeit Weberns nie aufgeführt, aber von ihm auch nicht vernichtet worden, klingt in dem vom Tonhalle-Orchester gespielten Arrangement von Gerard Schwarz für Streichorchester mit unter die Haut gehender Emphase. Mein Gott, ist das beseelte Musik voller Innigkeit. Vielleicht würde es mit einem etwas kleiner besetzten (Kammer-) Orchester noch intensiver klingen, obwohl sich alle größte Mühe geben, einen zarten Gesamtklang zu erreichen, einen liedhaften, glückseligen Ton, der den Gefühlen des frisch verliebten jungen Mannes (Anton Webern) gerecht wird.

Im Mittelpunkt des Konzerts standen Richard Strauss‘ so genannte letzte Lieder, welche er kurz vor seinem Tod in Montreux komponierte, deren Uraufführung er jedoch nicht mehr erleben durfte. Entstanden sind vier meisterhaft orchestrierte Lieder voller Innigkeit und tiefgründiger Beseeltheit. Die Sopranistin Golda Schultz sang sie gestern Abend mit sehr schönem Timbre, das aber an zu wenigen Stellen den so typisch Strauss’schen Silberklang verströmen konnte (wie er z. B. in Referenzaufnahmen mit Kiri Te Kanawa, Jessye Norman, Gundula Janowitz, Lisa della Casa oder sogar Leontyne Price zu erleben ist). Bei Golda Schultz klang das oftmals viel zu bodenständig geerdet, kam „die Seele nicht im freien Flug zum Schweben“. Diesen Zauberklang der Nacht, des Abschieds erfuhr man hingegen in den traumverloren intonierten Vor- und Nachspielen und in den begleitenden Passagen des Orchesters – die Solovioline, gespielt von Andreas Janke, war ein berückender Traum). Oftmals artikulierte die Sängerin den Text an unpassenden Stellen zu markant (Nun – der – Tag – mich – müd – gemacht). Am ergreifendsten gelang zum Glück die Eichendorff-Vertonung von Im Abendrot: „Nun sind wir wandermüde – ist dies etwa der Tod?“

Den ersten Konzertteil kann man heute Abend nochmals erleben im Rahmen von tonhalleCrush (classic meets Brazil), das ganze Konzert (mit der Sinfonie Bruckners) wird morgen Freitag nochmals gespielt. Hoffentlich entscheiden sich noch einige Musikfreunde, das schlechte Wetter für einen hochromantischen Konzertabend zu nutzen.

Kaspar Sannemann, 29. September 2024


Anton Webern: Langsamer Satz für Orchester (Arr. Gerard Schwarz)
Richard Strauss: Vier letzte Lieder
Anton Bruckner: Sinfonie Nr. 1 in c-Moll, Linzer Fassung

Tonhalle Zürich

25. September 2024

Paavo Järvi
Tonhalle-Orchester Zürich