Besuchte Aufführung: 30.10.2015 (Premiere: 19.9.2015)
Vernachlässigung der Musik
Sie geriet schon zu einem sehr ungewöhnlichen Ereignis: Die Derniere von Beethovens „Fidelio“ am Theater Trier. Diese Oper war Beethovens Schmerzenskind. Mehrmals umgearbeitet, wurde sie erst im Jahre 1814 von ihrem Schöpfer in ihre endgültige Form gegossen, die sich bis heute auf den Spielplänen der Opernhäuser hält. In Trier brachte man indes zum größten Teil nicht Musik aus der Fassung letzter Hand auf die Bühne, sondern aus der Ur-Fassung von 1805, die den Titel „Leonore“ trägt und die recht beachtlich ist. Schade nur, dass man deshalb auf so manche liebgewonnene Musiknummer verzichten musste. Vielleicht hätte das Trierer Theater diese Produktion „Leonore“ nennen sollen. Erst das Ende orientierte sich am „Fidelio“, wie er heute einem breiten Publikum bekannt ist.
Frauke Burg (Marzelline), Claudio Gatzke (Der erste Mann), Christian Beppo Peters (Der zweite Mann)
Bis dahin musste man sich auf einige Überraschungen gefasst machen. Ein Theater, das einen Regisseur wie Tilman Knabe engagiert, kann davon ausgehen, dass er ihm keine klassische Inszenierung auf die Bühne stellt, sondern diese in der Gegenwart ansiedelt. Das ist sicher kein Fehler und sollte auch so sein, damit das betreffende Opernhaus seinem allgemeinen kulturpolitischen Auftrag, einen Spiegel der Jetztzeit zu bilden, genügen kann. So geschah es auch hier. Indes ist Knabe, der in der Vergangenheit schon mit einigen hervorragenden Regiearbeiten zu begeistern wusste, dieses Mal einen Schritt zu weit gegangen. An diesem Abend erwies er sich als ausgemachter Stückezertrümmerer, was einige Zuschauer ziemlich verstörte. Demgemäß spricht das Programmheft auch nicht von einer Oper, sondern von einem „Musiktheaterprojekt nach Ludwig van Beethoven“. Diese Titulierung hat durchaus ihre Berechtigung, denn von der klassischen Oper ist in Knabes Deutung nicht mehr allzu viel übrig.
Frauke Burg (Marzelline), Marlin Miller (Florestan), Bea Robein (Leonore/Fidelio), Lukas Schmid (Rocco)
Ungewohnt war schon der Anfang, als anstelle der erwarteten, aber leider dem Rotstift zum Opfer gefallenen Ouvertüre ein gesprochener Text ertönte: Die Schauspieler Claudio Gatzke und Christian Beppo Peters hoben in einem im Hintergrund der von Wilfried Buchholz eingerichteten Bühne aufragenden Glascontainer das Schauspiel „Big Shoot“ des französisch-afrikanischen Autors Koffi Kwahulè mit sehr intensivem Spiel und durchaus aufregend aus der Taufe. In diesem Stück wird eine Verhörsituation in einem diktatorischen Umfeld von Folter und Terror nachgestellt, die mit der Ermordung des Gefangenen endet. Hier wird bereits Knabes Konzept erkennbar: Es geht ihm um die Zurschaustellung von Brutalität und roher Gewalt in einer Diktatur und um die zunehmende Verrohung des Menschen. Das Publikum bezieht er in das Geschehen ein. In der Pause mischen sich einige bedrohlich anmutende, von Gisa Kuhn mit schwarzen Unformen und Stahlhelmen ausgestattete faschistische Soldaten unter die Besucher. Im Laufe des Abends werden Willküropfer der Stalinistischen Terrorherrschaft eingeblendet. Augenscheinlich geht es Knabe um eine Abrechnung mit dem Faschismus Stalins und Hitlers, für die er auch noch andere Stücke heranzieht. So werden dem überraschten Auditorium neben der bereits erwähnten Schauspiel-Uraufführung von „Big Shoot“ eine von der Schauspielerin Juliane Lang zum Großteil recht lautstark vorgetragene Textcollage mit Zitaten aus „Das unsichtbare Komitee“ u. a. sowie das parallel auf der Studiobühne gespielte „Pas Moi“ aus der Feder Samuel Becketts vorgeführt, in dem die Angehörige des Sprechtheaters Gina Haller beeindruckend eine Frau in einer existenziellen Ausnahmesituation spielt.
Lucas Schmid (Rocco), Bea Robein (Leonore/Fidelio), Christian Sist (Don Pizarro), Opernchor, Extrachor, Statisterie
Auch musikalische Fremd-Einlagen gibt es: In sehr berührender Art und Weise spielt Ketevan Rukhadze am Ende des ersten Aktes die Sonate „27.April 1945“ von Karl Amadeus Hartmann, die dieser in Erinnerung an einen Todesmarsch Dachauer Häftlinge schrieb, deren Zeuge er geworden war. Lieder aus Hanns Eislers „Über den Sebstmord“ und Benjamin Brittens „Elegy“ aus der Serenade für Horn, Tenor und Streichorchester Opus 31 kamen dazu. Eine weitere Gesangseinlage bildete Luigi Nonos „Djamilia Boupachà“ aus den „Canti di vita e d’ amore“. Mit Beethovens Oper haben diese Zusätze nicht viel zu tun, fügen sich aber recht gut in Knabes Konzept ein. Gemeinsam ist ihnen, dass sie von Künstlern stammen, die sich trotz schlechter Erfahrungen mit dem jeweiligen politischen System entschlossen haben, an etwas zu glauben und eine Verbesserung der Verhältnisse nicht von vornherein auszuschließen. Das ist ihre Art, auf die fragwürdigen Gegebenheiten ihrer Zeit zu reagieren. Und Knabes Anliegen besteht weiter darin, deutlich zu machen, wie andere Menschen auf derartige Umstände reagieren. Die Antwort ist typisch für den Regisseur: Er lässt die Handlungsträger sich in Sex und Gewalt austoben. Nachhaltig wird das Auditorium mit Lärm, Blut und viel nackter Haut konfrontiert. Derartiges kennt man von Knabe schon zur Genüge. Das ist sein Steckenpferd. Dabei geht es manchmal alles andere als zimperlich zu. Pizarro und Rocco urinieren einmal ungeniert in die Pissoirs, die den rechten Teil der nüchtern wirkenden Bühne dominieren. Der auf die Putzfrau Marzelline lüsterne Jacquino muss auch mal sein (künstliches) Geschlechtsteil herausholen. Marzelline kennt Fidelios Geheimnis. Sie und Leonore dürfen sich splitterfasernackt zusammen in der Dusche vergnügen. Für diese mutig bewältigte Szene, die Jacquino, der das Ganze beobachtet, Fidelios wahres Geschlecht enthüllt, gebührt den beiden Darstellerinnen Respekt. Unnötig war, dass die sich auf einem bis weit in das Parkett erstreckenden Laufsteg austobende Aufständische von Juliane Lang gleich dreimal erschossen wurde. Aus dem Publikum hatte auch der Anzugträger Pizarro seinen ersten Auftritt. Auch sonst wurde der Zuschauerraum stark in das Spiel eingezogen. Bertolt Brecht lässt grüßen.
Bonka Karadjov (Jacquino), Bea Robein (Leonore/Fidelio), Frauke Burg (Marzelline), Marlin Miller (Florestan), Opernchor, Extrachor, Statisterie
Einmal mehr gefällt sich Knabe im Provozieren. Die aufgezeigten Vulgaritäten hatten zur Folge, dass nicht alle Zuschauer bis zum Schluss blieben. Auf der anderen Seite gab es indes auch mehr stille Szenen, in denen der Regisseur bewies, dass er auch anders kann. Das große Problem der Inszenierung bestand aber darin, dass Knabes Ansatzpunkt zu stark auf Kosten der herrlichen Musik ging. Der erste Akt war lediglich einem Kammerorchester anvertraut. Marzelline sang ihre teilweise gekürzte Arie zu unvernehmbarer Musik aus dem Kopfhörer. Ihr anschließendes Duett mit Jacquino war lediglich von Bongos begleitet. Einmal übernahm lediglich das Akkordeon die musikalische Stütze der Sänger. Diese musikalisch nicht akzeptable Vorgehensweise zog sich praktisch durch den gesamten ersten Akt. Erst im zweiten Aufzug, zu dessen Anfang Florestan seine Arie auf der Ladefläche eines Lieferwagens sang, kam Beethoven endlich zur Geltung. Aber auch hier gab es einen nur schwer erträglichen Überraschungseffekt, als beim Terzett „Euch werde Lohn in besseren Welten“ das Orchester urplötzlich schwieg und das Klavier die Begleitung übernahm. Wie gesagt: So etwas musste wirklich nicht sein. GMD Victor Puhl hatte sich voll und ganz auf das Konzept eingelassen, konnte aber nicht verhindern, dass die Musik im ersten Akt aufgrund der erheblichen orchestralen Reduzierung ziemlich belanglos erklang. Im zweiten Akt, in dem das gesamte Philharmonische Orchester der Stadt Trier im Graben saß, sah die Sache dann schon besser aus. Obwohl man sich von den Musikern hier und da etwas mehr an feuriger Intensität gewünscht hätte, hatte man es doch endlich mit Oper zu tun, die zuvor ziemlich zu kurz gekommen war.
Lukas Schmid (Rocco), Christian Sist (Don Pizarro), Bea Robein (Leonore/Fidelio), Marlin Miler (Florestan),
Don Fernando sang unsichtbar aus dem Off. Später wurde sein abgeschlagener Kopf hereingetragen. Hier begab sich Knabe auf das Terrain der Französischen Revolution mit ihren auf Fahnen hochgehaltenen Werten Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Und das zu Recht, denn auf diesen Kontext geht die Handlung ja zurück. Der Oper zugrunde liegt eine Erzählung von Jean-Nicolas Bouilly, in der es einer Frau in der Maske eines Mannes gelingt, ihren Ehemann aus einem Gefängnis der Jakobiner zu befreien. Diesen Bezug hat Knabe ganz richtig und klug in seine Deutung integriert. Dem Happy End misstraut er aber. Im Rahmen der aufziehenden Revolution lässt er fast sämtliche beteiligten Personen mit Maschinengewehrfeuer gnadenlos niedermetzeln. Nur Marzelline überlebt und singt zum Schluss an Leonores Leiche Nonos bereits erwähntes Solo „Djamilia Boupachà“ – ein starker Schluss zu einer letztlich nicht sonderlich überzeugenden Inszenierung.
Lukas Schmid (Rocco), Christian Sist (Don Pizarro), Bea Robein (Leonore/Fidelio)
Nun zu den Sängern: Bea Robein war eine darstellerisch intensive Leonore. Auch gesanglich vermochte sie mit ihrem insbesondere in Mittellage und Höhe gut fokussierten dramatischen Sopran zu überzeugen. Neben ihr fiel der nur über dünnes Tenormaterial verfügende Marlin Miller in der Rolle des Florestan ab. Einen kräftigen hellen Bariton brachte Christian Sist für den Don Pizarro mit. Lukas Schmid benötigte als Rocco eine gewisse Zeit, um stimmlich warm zu werden, vermochte dann aber mit gut sitzendem, profundem Bass durchaus für sich einzunehmen. Gut gefiel Bonka Karadjov s prägnant und mit guter Verankerung seines Tenors singender Jacquino, während die flach intonierende Marzelline von Frauke Burg stimmlich nicht in gleicher Weise ansprechend war. Schauspielerisch schnitt sie erheblich besser ab. Gut anzuhören war Tobias Scharfenberger, der den Don Fernando recht elegant gab. In den kleinen Partien der beiden Gefangenen waren Andrea Azzurini und Eui-Hyun Park zu erleben, wobei Herr Park der bessere war. Auf hohem Niveau bewegte sich der von Angela Händel einstudierte Chor, der bei „O welche Lust“ im Orchestergraben platziert war.
Fazit: Eine gewöhnungsbedürftige Aufführung, die ein hohes Maß an Toleranz erfordert.
Ludwig Steinbach, 31.10.2015
Die Bilder stammen von Vincenzo Laera