Besuchte Vorstellung: 29.11.2014 (Premiere: 08.11.2014)
Heuchelei, Doppelmoral, Satire und tiefere Bedeutung: gefeiert wird nur in der Unterwelt
1859 und 1858 kamen in Paris zwei neue Versionen des Orpheus-Stoffes heraus: eine Neufassung des Gluckschen Werks durch Hector Berlioz und Offenbachs Opéra-bouffon. Wahrscheinlich bestehen zwischen beiden Ereignissen keine Zusammenhänge; sie sind aber zumindest ein Zeichen dafür, wie populär der Stoff und wie allgegenwärtig Glucks Musik noch war. Orpheus in der Unterwelt ist die erste der „Travestien“ Offenbachs, in der er sich einen klassischen Stoff hernimmt, ihn völlig gegen den Strich bürstet und als Satire auf die Gesellschaft des 2nd Empire in Frankreich auf die Bühne bringt. Dafür harre er mit dem den Boffes-Parisiens sogar sein eigenes Theater eröffnet, wo dieses Stück seinen bis heute anhaltenden weltweiten Erfolg begann. Man könnte meinen, dass Offenbach zum Zweiten Kaiserreich gehört hat wie die Grünen zu unserem „Vierten Reich“; nur dass Offenbach und seine Librettisten nicht Moralin und Strafen verteilen (Veggie-Day und höhere Steuern), sondern süffisant und vergnüglich parodiert. Denn schließlich will jeder mitmachen bei der großen Sause. Die veranstaltet in der Operette der Höllenchef Pluto – und alle machen mit, die Bühne fasst sie kaum.
In Offenbachs Version ist Orpheus ein Musiker, von seiner (untreuen) Frau Eurydike ob seiner mediokren Kunst verachtet. Er ist froh ist, als seine Frau endlich von einer Schlange gebissen wird und er sie los ist; denn er auch hat eine andere Liebschaft. Sie fällt aber dem Gott Pluto in die Hände, der sie in die Unterwelt verschleppt, woraus sich eine köstlich-satirische Geschichte zwischen Himmel und Hölle ergibt. Text und auch die Musik (Zitat der Marseillaise) sind voller Anspielungen auf die Erfolgsgesellschaft unter Napoleon III in Frankeich. Da die Hauptthemen Anmaßung, Heuchelei und Doppelmoral sind, lässt sich die Handlung zu jeder Zeit an jedem Ort ansiedeln. Der Text wird tunlichst in die jeweilige Landessprache übertragen und entsprechend der zeitlichen und lokalen Gelegenheiten „angereichert“. Am Theater Trier verwendete man die ursprüngliche Übersetzung von Ludwig Kalisch (ein Schlesier jüdischer Abstimmung, der sich nach der März-Revolution nach Frankreich gerettet hatte), die der Regisseur Alexander Kerbst zu einer eigenen Fassung für die Trierer Aufführung bearbeitete und mit der Zweitfassung des Werks 1874 amalgamierte.
Evelyn Czesla (Eurydike), Luis Lay (Aristeus alias Pluto)
Weil Kerbst sich nicht auf Büttenreden-Niveau einließ und seine Gags auch sprachlich nicht immer sehr geschmeidig daher kommen, kommt der Fluss des Stücks im ersten Bild (im Heim des Künstlerehepaares) zunächst nur etwas schleppend und flach herüber, gewinnt aber ab dem zweiten (Olymp), dritten (Hades) und vierten Bild (Kostümball in der Unterwelt) richtig mitreißenden Schwung, woran Bühnenbild und Darsteller den größten Anteil haben. Karel Spanhak hat für das erste Bild das Treppenhaus eines großbürgerlichen Hauses im Neoklassizismus aufgebaut. Gegenüber den Orpheus‘ auf dem gleichen Flur wohnt der als Öko verkleidete Pluto unter dem falschen Namen Aristeus. Euridike im Hausfrauenkittel putzt das Treppenhaus und ist unzufrieden mit diesem Leben und mit ihrem Ehemann, einem mediokren Unterhaltungsgeiger (immerhin kann der schön „Ach ich habe sie verloren“ auf seiner poppig bemalten Geige spielen). Damit Aristeus, der gerade mit Einkaufstüten (natürlich aus umweltfreundlichem Kraftpapier) aus dem Bioladen kommt, nicht mehr über die Blumenkästen zu seiner Frau steigen kann, setzt Orpheus einen vergifteten Kaktus in den Blumenkasten. Dass sich aber seine Frau in diese Nesseln setzt und ohnmächtig umfällt, kümmert ihn nicht weiter. Aus dem Öko schält sich plötzlich Pluto heraus, ein Gangsterboss im auffälligen Streifenanzug, der die Dame mit in sein Reich weiter unten in der Villa, im Heizungskeller nimmt. Die „Öffentliche Meinung“ agiert hier in Person der Agentin (geschäftsüblich oder als Quotenfrau im schicken deux pièces und hochhackig) des Musikers und zwingt diesen dazu, bei den Göttern im Olymp einzukommen, Eurydike wieder herzugeben, damit der Schein des guten Ehelebens ihres Klienten gewahrt ist und die Einnahmen weiter sprudeln lässt.
Barbara Ullmann (Orpheus‘ Agentin/Die öffentliche Meinung), Svetislav Stojanovic (Orpheus)
Also ab in die den Olymp! Geschickt werden die Seitenkulissen auseinandergezogen; im nun breiten Hintergrund steht eine Reihe von weißen Säulen, davor tagen die Götter in prächtigen Gewändern (jedes mit den entsprechenden Symbolen auf den Gott versehen; Kostüme: Carola Vollath) in Gold, Silber und strahlend unschuldigem Weiß. Die sind unzufrieden, denn der etwas vergreiste Göttervater Jupiter hält ein strenges Regime und predigt ihnen, Sitte und Anstand zu wahren, um den Menschen ein Vorbild zu sein. Er gehört aber zu der Gattung, die Wasser predigt und Wein trinkt. Es taucht gerade ein ganzer Stapel von Zetteln mit Berichten seines amourösen Vorlebens auf, was die Göttergesellschaft, die sich auch durch ein hübsches Ballett unterhalten lässt, zu einem grandiosen Spottlied nutzt. Der herbeizitierte Pluto leugnet gegenüber Orpheus und seinem Bruder, dem Göttervater, etwas mit dem Verschwinden von Eurydike zu tun zu haben, weshalb Jupiter mit seinem Gefolge selber mal in der Unterwelt nachschauen geht.
Olymp: Norbert Schmittberg (Jupiter) thront über seinen Mitarbeitern
Der Zuschauer erfährt gleich zu Beginn des dritten Bilds dass Pluto gelogen hat; denn er hält sie Eurydike in einer Folterkammer (die ist aus dem Bühnenboden herausgefahren) Eurydike gefesselt und lässt sie von Hans Styx bewachen, der – einst „Prinz war in Arkadien“ – nun nur noch am Flachmann hängt, um „Lethe“-Wasser zu trinken. Natürlich entdeckt der Göttervater die junge Frau und will sie aufgrund ihrer Schönheit gleich für sich behalten und will sie – als grüne Fliege verkleidet (die Musik summt und brummt dazu) – aus der Unterwelt herausschmuggeln und durch den von Pluto zu Ehren der Götter anberaumten Maskenball schleusen. In der Hölle darf noch ausgelassen gefeiert werden. Die Szene weitet sich wieder zur Säulenhalle, weil nun inklusive Chor, Extrachor, Ballett und Statisten alle Protagonisten Platz finden müssen. Trotz des Trubels auf der Szene mit Höllengalopp und Ballett durchschaut Pluto das Spiel. Schlau schlägt er vor, dem Orpheus seine Eurydike wiederzugeben. Damit ist aber nun niemand so recht zufrieden. Man macht einen Deal: Eurydike wird im Gefolge des Bacchus zu einer Bacchantin und kann ihre Sehnsucht nach echter Kunst stillen … am Theater. Einzelheiten dieser Lösung gehen im rauschartigen Schlusstableau fast unter. — Mit einer Serie von gelungenen Regieeinfällen, origineller Personenführung und den gekonnten Tanzeinlagen der acht Tänzer des Tanztheaters (Choreographie: Reveriano Camil) hat das Theater Trier eine insgesamt gut gelungene Inszenierung dieser immergrünen Operette abgeliefert.
Christian Miedreich (Hans Styx), Evelyn Czesla (Eurydike)
Wie auch die Inszenierung kommt auch das Philharmonische Orchester der Stadt Trier unter Joongbae Jee erst zögerlich in Fahrt. Erst uninspiriert klingend und mit Ungenauigkeiten ohne Schmiss und Schwung ließ das Orchester ab dem zweiten Bild doch das rechte Offenbachsche Temperament zum Vorschein kommen und musizierte dann – ganz im Fluss mit der Partitur – zum „Höllen-Cancan“ (oder auch „galop infernal“) ein mitreißendes Finale. Chor und Extrachor des Theaters (Einstudierung: Angela Händel) mischen da stimmkräftig und bewegt mit.
Das Theater besetzte die vierzehn verschiedenen gelisteten Rollen nicht ganz homogen wirkend mit Opernsängern und Schauspielern. Die herausragenden Darsteller des Abends sind die beiden Brüder und Gegenspieler: Luis Lay als Pluto/Aristeus und Norbert Schmittberg als Jupiter, und zwar aus ganz verschiedenen Richtungen. Lay verkörpert die den zwielichtigen Unterweltsgott mit unglaublicher schauspielerischer Gewandtheit und Verve, für die auch seine Ausbildung im Tanz ursächlich ist. Im eleganten Sprechen nahm er es mit den Schauspielern auf; auch im Gesang verstand man jede Silbe seines nicht sehr geforderten Tenors. Dabei hatte er sich mit einem Rücken-Wehweh ansagen lassen. Schmittberg hingegen, der am Staatstheater Darmstadt viele große Opernrollen gesungen hat, u.a. auch einen beachtlichen Parsifal (!), zeigte seine künstlerische Vielfältigkeit von der anderen Seite her: stimmlich überlegen mit bronzenem geschmeidigem Tenor und gewandt im Sprechen, gab er dem heuchlerischen Göttervater überzeugendes darstellerisches Profil. Das konnte auch Evelyn Czesla mit blendender Bühnenerscheinung als Eurydike, aber ihre Stimme zeigte sich für die Operette als zu schwer; ihre Textverständlichkeit tendierte gegen null.
In der Mitte: Luis Lay (Pluto)
Der Orpheus von Svetislav Stojanivic war darstellerisch etwas hölzern und stimmlich von recht trockenem Tenor; konnte nicht überzeugen. Wiederum von der schauspielerischen Seite kam die Öffentliche Meinung/Agentin der Barbara Ullmann, die eine erotisch-frivole Wirkung entfaltete und sich auch ihrer gesanglichen Aufgaben achtbar entledigte. Neben den vielen kleinen Rollen der gesamten Götterschar, die fast durchweg von den Opernsängern des Trierer Ensembles darstellerisch und stimmlich kompetent wahrgenommen wurden, hatte noch der Schauspieler Christian Miedreich mit dem Hans (John) Styx im dritten Bild eine prominente Rolle zu spielen. Er gestaltete diese tragikomische Gestalt mit seinem Bandwurm („als ich noch Prinz war von Arkadien“) mit viel Hingabe und einem recht kräftigen Bariton.
Das Theater war sehr gut gefüllt; alle Mitwirkenden erhielten großen Beifall. Für Interessenten: die nächsten Aufführungen der aufwändigen Produktion finden am 02. und 07.12. und natürlich zu Silvester statt. Im neuen Jahr folgen noch acht weitere Vorstellungen im neuen Jahr.
Manfred Langer, 01.12.2014
Fotos: Friedemann Vetter