Wer – nicht einmal ganz zu Unrecht – der Ansicht ist, Mozart habe zum Ende des 18. Jahrhunderts der damaligen „alla turca“-Mode und dem Edelmenschentum der Aufklärung etwas zu naiv gehuldigt (zumindest, wenn man ahistorisch denkt und unsere Maßstäbe für das Maß aller Dinge hält), der hat die ausgezeichnete Möglichkeit, die Finger von der „Entführung auf dem Serail“ zu lassen.
Die Volksoper der Lotte de Beer ging einen ganz anderen Weg. Sie engagierte einen türkischen Regisseur, der ganz richtig (nein, das hat man nicht gewusst!) feststellte, dass Mozart nie in der Türkei war. Der für den Bassa einen Schauspieler türkischer Herkunft engagierte – und sich ergänzende „kommentierende“ Texte von einem afghanisch-deutschen Rapper und Poetry-Slammer (Sulaiman Masomi ) schreiben ließ.
Was erfährt man also? Gleich zu Beginn stellt Belmonte fest, dass Orient nicht unbedingt „Simsalabim“ ist. Der Bassa geht mit einer Einsicht, der im Allgemeinen weder islamische noch weiße (alte oder junge) Männer fähig sind, reuevoll in sich und erklärt, was Männer Frauen alles antun. Pedrillo enttäuscht Belmonte damit, dass Orient nicht Bauchtanz, sondern brutale Gewalt bedeutet – und dafür schickt der Regisseur eine besonders hässliche Soldaten-Truppe auf die Bühne. Dieser muss dann die (bei Mozart sehr helle, freudige, echt klingende) Huldigung auf den Bassa singen.
Am weitesten darf sich Blonde aus dem Fenster hängen. In einer Party-Szene, die mit dem Stück so wenig zu tun hat, dass es schmerzt, versucht sie den kopulierenden Hedonisten im Nacktbody ins Gewissen zu reden, sie sollten sich endlich befreien. Dabei lässt sie eine Hasstirade auf Männer los, wie sie Alice Schwarzer in ihrer besten (oder schlimmsten) Zeit nicht bösartiger hätte formulieren können. Und sie fordert das mitfühlende Matriarchat – ja, wirklich, Damen wie Frau Thatcher an der Macht haben gezeigt, wie außerordentlich rührend sie sich um ihre armen Landsleute bekümmert haben…
Das Beste, wenn man es so nennen will, kommt am Schluß. Da heißt es nämlich, wenn der Bassa die Gefangenen edelmütig wegschickt, in Bezug auf die ihn enttäuschende Konstanze und die ihn betrogen habenden Herren: „Wen man durch Wohltun nicht für sich gewinnen kann, den muss man sich vom Halse schaffen.“ Und jetzt geht’s los – nämlich nur mit der zweiten Hälfte des Satzes.
Vom Halse hätte sich eine hochmütige weiße Gesellschaft (strafender Blick ins Publikum) möglichst alle Probleme mit der Dritten Welt geschafft, besonders die arme türkische Community wird immer noch verachtet, obwohl sie doch schon seit Generationen hier ist… Fememorde an jungen Frauen, alles Klischees. Warum nur, warum? lautet die Klage, die noch jede Menge anderer Hiebe austeilt – nur dass die Engländer, selbst wenn man sie zu Recht als schlimmste Kolonialherren von allen bezeichnet, sich deshalb nicht ducken werden, wie es hierzulande in aller Demut üblich ist, sondern stolz die Achseln zucken: Ja, das waren sie, na und?
Nichts, was hier immer wieder eingeschoben wird (der Abend dauert dann mehr als satte drei Stunden), ist falsch, wenn auch völlig einseitig und manipulativ formuliert (das „Vom Halse schaffen“ ist, wenn man den ersten Teil des Satzes dazu nimmt, kein weißer Faschismus, sondern schlicht eine Lebensweisheit zwecks Überlebens). Nichts, was man nicht wüsste, und nichts, was nicht die Frage aufwirft „Look, who is talking“. Aus welcher Hochmutsebene („Wir sind die Guten!“) und wohlfeiler Opferpose zugleich wird hier angeklagt? Aber keine Frage, Lotte de Beer und die Ihren werden von den üblichen Verdächtigen schon die begeisterte Zustimmung ernten für den Mut, es dem Wiener Publikum hinein gesagt zu haben.
Offenbar waren diese verbalen Auswüchse das einzige, was Regisseur Nurkan Erpulat zu dem extrem schwierigen, weil eben tatsächlich dramaturgisch so schwachen Werk, das letztlich nur eine Arie nach der anderen abfeiert, eingefallen ist. Dazu extreme Reizlosigkeit des Optischen – Bühnenbildnerin Magda Willi schuf erst die längste Zeit einen durchlässigen Vorhang, dann für die erfundene Party der seltsamen Kunstfiguren, die wie Untote herumwanken, eine Art offener Frucht, in deren Fruchtfleischhöhle kopuliert wird (pfui, wie es bei dem edlen Bassa zugeht), und am Ende die Silhouette einer orientalischen Stadt.
Rein gar nichts also, und die so gut wie nie gelingende Szene der „Entführung“ selbst setzt der Regisseur (getreu seiner Aussage, es sei immer noch ein Lustspiel – und kein Lehrstück für das Publikum?) total aus, da rennen Belmonte und Pedrillo mit riesigen Leitern herum, und das soll wohl sehr, sehr lustig sein.
Was die Kostüme betrifft, so tragen die Europäer Begräbnis-Schwarz, während es die Orientalen etwas interessanter geben dürfen: Osmin wirkt in seinem langen schwarzen Rock wie Conchita ohne Perücke (einmal darf er sich auch, heute war ja Pride & Party, einen Blumenstrauß in den Hintern stecken), und der Bassa ist mit einem schwarz-weißen langen Federrock (Kostüme: Aleksandra Kica) noch schicker. Dass dem Abend darüber hinaus nichts eingefallen ist, macht ihn in jeder Hinsicht dürftig.
Murat Seven gibt den Bassa, spricht seine Texte souverän, ist aber zweifellos eher vor den Film- und Fernsehkamera zuhause als auf der Bühne, für die seine Stimme nicht wirklich ausreicht. Dass der Regisseur unterstellt, Konstanze könnte sich in den Bassa verguckt haben (die beiden schmusen ganz schön), ist nicht neu und nicht unglaubwürdig, aber nur eine Marginalie. Zumal die vier Hauptrollendarsteller wirklich nicht viel mitbringen.
Zwei schrille Soprane (Rebecca Nelsen als Konstanze und Hedwig Ritter als Blonde) und zwei schrille Tenöre (Timothy Fallon als Belmonte, Daniel Kluge als Pedrillo) bekamen zwar den artigen Szenenapplaus des artigen Premierenpublikums, aber dieses bewies beim Schlußapplaus, der auch Alfred Eschwé für einen teils transparenten, manchmal ein wenig geschleppten Mozart galt, dass man nicht auf den Ohren gesessen ist.
Den größten Jubel erntete zu Recht Stefan Cerny als Osmin (der immer wieder beweist, dass man traditionell „füllige“ Rollen auch mit schlanker Statur gleich überzeugend gestalten kann) – die einzig wirklich schöne Qualitätsstimme des Abends, zumal ein Sänger, der Mozart auch wirklich mit Legato, Technik, Kraft und Humor singen kann (ein präziser, witziger Schauspieler ist er zudem).
Das Publikum, das die finale strenge Belehrung mit eisernem Schweigen entgegen genommen hat (seltsam – von Thomas Bernhard weiß man ja, dass die Wiener gerne frenetisch klatschen, wenn man sie beschimpft), applaudierte dann den Sängern und ließ einige kräftige Buh-Rufe gegen die Regie hören. Nicht jeder schätzt es, mit Banalitäten überschüttet zu werden.
Renate Wagner, 18. Juni 2023
Die Entführung aus dem Serail
Wolfgang Amadeus Mozart
Volksoper Wien
Premiere: 17. Juni 2023
Regisseur Nurkan Erpulat