Wien: „Sweet Charity“

Volksoper Wien, 12.10.2010

Seit vielen Jahrzehnten macht sich die Volksoper um die Akzeptanz der „klassischen“ amerikanischen Musicals verdient. Damit meine ich Werke, die zwischen 1930 und bis Ende der 1960er-Jahre entstanden sind (es war danach ein fließender Übergang zu Musicals und Rock-Opern wie Hair oder Jesus Christ Superstar, auch die späteren Werke von Andrew Lloyd Webber und Konsorten haben ja kein Big-Band-Orchester mehr). Als erste Neuproduktion der Saison stellt die Direktion mit „Sweet Charity“ ein Werk der zweiten Reihe vor, dass der breiteren Masse nur durch den Song „Big Spender“ bekannt sein dürfte.

Aber auch ohne weitere musikalischen Highlights (vielleicht noch ausgenommen den „Rich Man’s Frug – der allerdings nur zur vollkommenen Entfaltung kommt, wenn man dazu auch tanzt) ist das Werk durchaus interessant. Der Komponist Seymour Kaufmann a.k.a. Cy Coleman verstand es, verschiedenste US-amerikanische und lateinamerikanische Musikstile in diesem Werk unterzubringen. Coleman hatte zwar eine klassische Ausbildung (unter anderem debütierte er als 6-jähriger in der altehrwürdigen Carnegie-Hall), etablierte sich aber später als „Jazzer“ und arrangierte unter anderem auch Werke von Duke Ellington. Von Ragtime über Paso Doble bis hin zu Liedern, deren Instrumentation man eindeutig in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre verorten kann, gelang ihm ein interessanter Querschnitt über eine fünfzigjährige amerikanische Musikgeschichte.

Speziell die Choreographie des „Rich Man’s Frug“ (Damian Czarnecky) spiegelte den Geist der „Swinging Sixties“ wider – man fühlte sich ins London der Hippie-Ära versetzt (obwohl das Stück in New York spielt – aber diese Art der Hippie-Kultur wird man wohl für immer mit London verbinden). Ein typischer Sound mit leicht psychodelischen Einflüssen, getragen durch das Cordovox (das ist ein elektronisch verstärktes Akkordeon – dieses Instrument gilt als Vorgängerin der berühmten Hammond-Orgel, die dann in den 1970ern unabdingbar für Rockbands wie Deep Purple, Yes oder ELP war, später dann als „Hemmungsorgel“ in der Band von Dr.Kurt Ostbahn im Einsatz) in Verbindung mit Glitzerkostümen (Tanja Liebermann) aus dieser Epoche ergab eine Szene, die man 1:1 in die Austin Powers – Filmreihe übernehmen hätte können.

Überhaupt nahm der Regisseur Johannes von Matuschka (bewusst oder unbewusst) viele Anleihen aus Produktion der frühen 1970er in sein Konzept mit hinein. So erinnerte eine der ersten Szenen des Abends sehr stark an den Sketch „Ministry of Silly Walks“. Der Auftritt des „Daddy Brubeck“ – sehr überzeugend in dieser Rolle Drew Sarich – war der Verfilmung von „Jesus Christ Superstar“ abgekupfert, und zwar eine Mischung aus den Kostümen von „King Herod’s Song“ und Kostümen/Choregraphie von „Superstar“. Daddy Brubeck selbst erschien wie eine Kopie des Frank’n’Furter aus der „Rocky Horror Picture Show“, es wurden ebenfalls Ideen aus „Sweet Transvestite“ und dem „Time Warp“ eingearbeitet.

Das Bühnenbild und die Videos wurden von fettfilm entworfen. Hinter diesem Namen verbergen sich Momme Hinrichs und Torgen Meller. Sie sind in Wien keine Unbekannten, da sie auch für visuelle Effekte in der aktuellen Walküre-Produktion der Staatsoper zuständig waren. Ich persönlich mag es, wenn das Bühnenbild stark reduziert ist (in diesem Fall war es zum Großteil ein schwarzer Hintergrund, dazu wurden Buchstaben als Möbelstücke integriert, die immer wieder neu angeordnet wurden und verschiedene Wortkombinationen zeigten, die zum jeweiligen Song passten.

Zum ersten Mal wurde das Stück in deutscher Sprache in 1970 aufgeführt. Für diese Produktion entschloss man sich zu einer Neuübersetzung (Alexander Kochinka). Die Liedtexte sind gut gelungen. Wie auch bei anderen Musicals entschloss man sich aber, den „Signature Song“ – „Big Spender“ – in der Originalsprache zu lassen. Weniger glücklich war ich mit den Prosa-Stellen, die für meinen Geschmack ein wenig zu „Deutsch“ waren – Österreich und Deutschland unterscheiden sich doch ein wenig durch die „gleiche“ Sprache �� Es täte außerdem der Aufführung gut, wenn man gewissen Szenen kürzen würde – besonders der 1.Akt zog sich teilweise wie ein Strudelteig…

Musikalisch lag die Aufführung bei Lorenz C. Aichner in den besten Händen, das Orchester der Wiener Volksoper setzte diverse Anforderungen, die die verschiedenen Musikstile mit sich brachten, bestens um.

Lisa Habermann in der Titelrolle der Charity Hope Valentine war fast die gesamte Zeit auf der Bühne anwesend und spielte sich die Seele aus dem Leib. Gesanglich war nichts auszusetzen (es ist schwer ein endgültiges Urteil abzugeben – durch das Mikrophon gibt es doch technische Möglichkeiten, eventuelle Mängel auszugleichen). Habermann spielt sympathisch, ihre „Charity“ war teilweise sehr aufgekratzt. Die verletzliche Seite dieser Figur kam aber etwas zu kurz.

Den gesanglich besten Eindruck hinterließ Julia Koci als Nickie, auch Caroline Frank fiel sehr positiv auf. Peter Lesiak war ein sympathischer Oscar, der auch gesanglich seiner Rolle gerecht wurde. Axel Herrig spielte den Vittorio Vidal „rollendeckend“. Jakob Semotan, der Papageno der Neuproduktion der Zauberflöte, die in den nächsten Tagen Premiere feiert, hatte auch einen Auftritt in einer kleineren Rolle. Alle anderen Darsteller sollen gesamthaft gelobt werden.

In einem zweiten Durchlauf sollten sich die Verantwortlichen überlegen, die Texte zwischen den Musiknummern zu kürzen – es würde der Produktion guttun. Nichtsdestotrotz war es ein interessanter (und das ist positiv gemeint!) Abend, den man mit etwas Hintergrundwissen der Kultur der 60er/70er-Jahre sogar noch mehr genießen kann.

Kurt Vlach, 14.10.2020