Wien: „Hollands Meister“

Premiere: 20. September 2020

Sol León & Paul Lightfoot / Hans van Manen / Jiří Kylián

Hat die Ära von Martin Schläpfer als Ballettdirektor & Chefchoreograph des Wiener Staatsballetts „affig“ begonnen? Man könnte es durchaus so sagen, aber ein paar Gedanken voraus. Denn das auf ihn sehr neugierige Wiener Ballettpublikum hätte sich natürlich gewünscht, dass der neue „Chef“ sich zum Einstand mit einem eigenen Werk einstellt. Aber das Wünschen hilft nicht immer, und Martin Schläpfer wird sich überlegt haben, warum er es gewissermaßen sanft und vorsichtig angeht.

Die berühmten großen Handlungsballette hat man von ihm nicht zu erwarten, dann ist die klassische Lösung des „gemischten“ Abends mit verschiedenen Werken berühmter Choreographen sicher die unproblematischste Lösung – selbst wenn es sich um Werke handelt, die alle Jahrzehnte alt sind. „Hollands Meister“ klingt außerdem gut, und wenn das erste Stück auch von einer Spanierin und einem Engländer und das letzte von einem Tschechen und nur das mittlere von Hollands Großmeister Hans van Manen stammt, so ist es dennoch kein Etikettenschwindel, denn alle Werke sind für Ensembles in den Niederlanden entstanden, von Künstlern, die dort tief verankert waren.

Also – „affig“. Das erste Stück des an sich sehr kurzen Abends dauert nicht viel mehr als zehn Minuten, so lange die Ouvertüre von Rossinis „La gazza ladra“ eben währt. Ein unglaublich fröhliches Stück Musik. Dazu vier Tänzer, drei Männer, eine Frau: Sie zucken, sie schleudern ihre Extremitäten herum, sie gestikulieren, sie grimassieren, dass man kurz über lang zu dem Schluß kommt: Da hat man es mit einem Schippel Affen zu tun. Und das ist nicht negativ gemeint: „skew-whiff“, wie Sol León & Paul Lightfoot ihr 1996 uraufgeführtes Stück genannt haben, ist nicht nur schwierig und brillant, sondern enorm witzig und wurde vom Publikum auch mit einem Jubelschrei entgegen genommen, den die folgenden, „seriöseren“ Stücke nicht erreicht haben… Fiona McGee, Davide Dato, Denys Cherevychko und Masayu Kimoto liefern mit spürbarer Lust und Selbstironie ihre tänzerischen Meisterstückchen ab.

Dann, samt Applaus ist gerade eine Viertelstunde vorbei, die erste Pause. Danach ein Klassiker aus dem Jahr 1973: Das „adagio hammerklavier“ (für das sich Shino Takizawa im leeren Orchesterraum an den Flügel setzte): Es ist ein ernstes, schwermütiges Stück Musik, entsprechend ist Hans van Manens gewichtige Umsetzung. Drei Paare (hoch besetzt mit Olga Esina – Robert Gabdullin, Ketevan Papava – Roman Lazik, Liudmila Konovalova – Andrey Teterin), die ganz in Weiß mit tragischen Mienen gewissermaßen Beziehungsdramen abliefern, klassische Bewegungen, Spitzentanz und doch nicht Klassik, sondern Moderne, intensiv, beeindruckend. Die gute Laune des ersten Teils ist dann allerdings weg.

Das hat keine halbe Stunde gedauert, die nächste Pause. Und am Ende wird es schwierig. Denn die „symphony of psalms“, 1978 uraufgeführt (nach der Psalmensymphonie von Igor Strawinski), ist ein durch und durch enigmatisches Werk. Sein Schöpfer Jiří Kylián belässt 16 Tänzer die ganze Zeit auf der Bühne, die im Hintergrund mit ganz dunklen orientalischen Teppichen verhängt ist und auf der eine Menge Sessel stehen, die immer wieder einmal „mitspielen“. Gelegentlich tritt ein Paar hervor, aber keines übernimmt die Führung (und das Staatsballett setzt hier bei den Damen immerhin Namen wie Maria Yakovleva, Nina Poláková oder Alice Firenze ein). Der Choreograph wirft zur Erklärung eine Menge Begriffe hin – Endlosigkeit, Zahlen, Pi, Unvollendetes, Bewegung, Reisen… aber eine Handlung wird man nicht herausfinden, höchstens die Tatsache, dass alles in besonderem Maße ritualisiert wirkt. Eindrucksvoll, anspruchsvoll, rätselhaft.

Im Vergleich zu früheren Zeiten haben drei alte Stücke aus Holland allerding nichts wirklich Neues gebracht. Das Publikum jubelte dennoch, und das Corps (Stars gab es diesmal keine) hat es verdient. Man bleibt neugierig – auf Martin Schläpfer.

Renate Wagner, 26.9.2020