Wuppertal, Ballett: „Die sieben Todsünden“, Pina Bausch

In der Bayrischen Staatsoper war Pina Bauschs „ Frühlingsopfer“ jüngst als „Wing of Memory“ zusammen mit zwei anderen epochemachenden Choreografien nur wenige Male zu sehen. In Wuppertal stand jetzt vom 12.-21.04.25. täglich der Doppelabend „Die Sieben Todsünden“ /„Fürchtet Euch nicht“ von 1976 auf dem Spielplan.

© Paul Andermann

Berthold Brecht hatte 1933 die literarische Vorlage für dieses satirische Ballett von Kurt Weill auf dessen Veranlassung hingeschrieben. Anna I (Ute Lemper aus New York) und Anna II Stephanie Troyak (inzwischen ebenfalls in New York zu Hause) touren darin sieben Jahre durch die USA, um ein bescheidenes Eigenheim für Brüder und Eltern am Mississipistrand in Louisiana erwerben zu können.  Dass der Herr ihre Kinder auf dem Weg zum Wohlstand erleuchten möge, wünscht sich die Familie.  Anna I (rational, marktkundig, praktisch) und Anna II (schön, etwas verrückt, sich als Ware anbietend, aber durch aus auch nach Glück und Liebe strebend) verkörpern zwei Seiten, zwei Seelen einer schizoiden Anna, die sexuell ausgebeutet wird, der Faulheit Stolz, Zorn, Völlerei, Unzucht, Habsucht und Neid von Brüdern und Eltern vorgeworfen wird. Musikalisch gestaltete das familiäre Männerquartett (Mark Bowman- Hester, Sebastian Campione, Sergio Augusto, Simon Stricker von der Oper Wuppertal) vorne links auf der Bühne am Tisch sitzend, sauber und klar im Gefolge der Comedian Harmonists Annas Familie (Eltern und Brüder), wobei die Entfernung zum Orchester auf der Hinterbühne unter dem souveränen wie schwungvollen Jan Michael Horstmann musikalisch durchaus eine Herausforderung darstellte. Während es sich bei Weill und Brecht um herbe Kritik eines kleinbürgerlichen Kapitalismus handelt -Originaltitel: Die sieben Todsünden der Kleinbürger –, stehen bei Pina Bausch Leid und Elend der schönen und sexuell ausgebeuteten Anna II, steht die Frau als Opfer im Vordergrund. Die im Text noch spürbare Stärke und Vitalität einer Mutter Courage ist bei Pina Bausch weitgehend umgedeutet worden. Ihr Tanztheater zeichnet sich wie etliche andere frühe Stücke durch Härte, Kompromiss- und Aussichtslosigkeit aus wie. Immerhin hat Anna Herz und Sparkassensparbuch. Anna l bereitet die Geldbeschaffungstournee vor mit heftigem Kämmen und bedrohlichem Schwingen von Scheren für die Frisur, bevor sie sich nach Vervollständigung ihrer Ausstattung auf den diagonalen Straßenstrich begibt.

© Laszlo Szito

Rolf Borzik wollte bei seinen Bühnenbildern die „Schicht von Gefälligkeit und Fertigkeit abschaben bis hin zum naiven Kern“, einen „freien Aktionsraum schaffen, der Tänzerinnen und Tänzer zu frohen oder grausamen Kindern macht“. Jedenfalls finden sich solche Bemerkungen in seinen Notizen.  Für die Todsünden schuf er eine dunkle Straße des Lebens mit Kanaldeckel und Gosse, die bis zum Orchester auf der Hinterbühne führte. Im schwarzen Umfeld fanden Tische, Scheinwerfer, alle für die Aufführung nötigen Requisiten zusätzlich Platz.

Ute Lempert sang grandios mit elektronischer Verstärkung und Stephanie Troyak tanzte anrührend, verletzlich und brutal, wenn sie sich für jede Szene vorne auf der Bühne bis auf die schlabberige Unterwäsche immer wieder umzieht, ihren „kleinen weißen Hintern“ feilbietet oder auch ohne Musik in der Stille tanzt. Wenn die ganze Damenriege, in Strapsen und Reizwäsche bis an die Bühnenrampe dem Publikum entgegenkommt und diesem erstaunlich gelangweilt in die Gesichter schaut, kommen die Herren in einer Reihe diagonal im Gleichritt über die Bühne und und begrapschen Anna II, wo sie nur können, jedenfalls überall.  Trotz fehlender letzter Wucht synchroner Exaktheit in den Massenszenen verfehlen diese nach wie vor ihre Wirkung nicht. Das Stück ist eines der seltenen von Pina Bausch, welches 1. nach vorgefertigtem Libretto entstanden ist, wie spätere nicht mehr und in welchem noch 2. nach richtigem Orchester getanzt wird. Musikalisch fasziniert anders als die später bei Bausch gebräuchliche Konserve die komplexe Musik Kurt Weills, die zwischen Synagogengesang -sein Vater war Kantor an der Synagoge in Dessau-, Jazz, Schlager, spätromantischer Sinfonik oszilliert, und am Ende das Elend der geschundenen Anna den beseelten Streichern anvertraut, was allerdings wegen der Entfernung nach hinten untergeht.

Nach der Pause ging es biblisch weiter, zwar nicht mit den Kardinaltugenden aber mit „Fürchte Dich nicht“, einer eher lockeren Revue unter Verwendung von Songs u.a. aus der Dreigroschenoper, und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny und Mitwirkung von Melissa Madden Gray, Steffen Lauber, Ute Lemper und Erika Skrotzki wirken als prominente Gäste.  „Fürchte dich nicht“ verheißt bei Mose und Jesaja Trost und Zuversicht, bei Pina Bausch Teil II endet die Verheißung aber mit einer über die ganze Länge des Stücks vorbereiteten Vergewaltigung immerhin auf einem Plümo, nicht auf nacktem Bühnenboden Tänzerisch hinreißend, wenngleich bewegungsarm, fasziniert das Ballett der mechanischen Puppen und dem Spielpferd aus Pappmaschees auf dem Weg nach Birma. Leider erscheint der trotz allem geliebte Jonny mit seiner ekligen Pfeife im Mund nicht persönlich auf der Bühne. Nach mit- und vom Hocker reißenden Ballettszenen, in denen jede Grenze zwischen den Geschlechtern bis hin zur Kostümierung schwindet, bejubelt das durchaus nicht jugendliche Bausch-Publikum im auch am letzten Tag vollständig ausverkauften Barmer Opernhaus wie eigentlich immer das einzigartige Tanztheater der legendären Pina Bausch.  

© Oliver Look

Für die Authentizität der Aufführungen nach dem Tod der Choreographin und wechselndem Ensemble mit etlichen Gästen zeichnet die Pina Bausch Fondation verantwortlich, engagierte hier in Wuppertal dazu jetzt Josephine Ann Endicott und Julie Shanahan, Tänzerinnen noch aus der Urzeit der Compagnie, glaubt auf diese Weise den ursprünglichen Geist und Sinn erhalten zu können. Das behindert die internationale Verbreitung des Pina Bausch Oeuvres bisher nicht. Die Compagnie hat noch vor wenigen Wochen am anderen Ende Welt in Adelaide/ Australien gespielt. Wie sich diese museale Konservierung der Werke aber auf Dauer auswirkt, bleibt abzuwarten.  Zur Wiederaufnahme erschien ein Programmheft auf Deutsch und Englisch mit dem Brechtschen Text, vielen Fotos einem gezeichneten Entwurf des Bühnenbildes von Rolf Borzik und einem Text von Norbert Sevos.

Johannes Vesper, 22. April 2025

Besonderer Dank an unsere Freunde von den Musenblättern


Die sieben Todsünden
Fürchtet Euch nicht!
Pina Bausch / Bertold Brecht

Wuppertaler Opernhaus

Vorstellung am 12. April 2025
Uraufführung: 15. Juni 1976

Musikalische Leitung: Jan Michael Horstmann
Sinfonieorchester Wuppertal