Premiere in Wuppertal am 30.10.16
„Schenk mir einen bunten Luftballon…“
"Die Liebe zu den drei Orangen" ist mühsam und viel zu spät zur Repertoireoper geworden; sie gehört in jedes einigermaßen verantwortungsvoll geführte Theater-Angebot. Daher ist es grundsätzlich erst einmal lobenswert, wenn man Werke von großen Sergej Prokofjew (Weitere Opern: Maddalena, Der Spieler und Der feurige Engel) überhaupt präsentiert. Und diese durchaus ohrenfreundlich zu rezipierende Oper gehört einfach zum einem vernünftigen Repertoire-Aufbau, wie er in Wuppertal notwendig wurde; und wie er sich ja gerade, hoch lobenswert und vielfältig, vom neuen Intendanten Berthold Schneider als work in progress entwickelt.
Des weiteren lobenswert ist die Mühe, die man sich mit Werkeinführungen gibt – wobei heuer sogar sich das ganze Team im oberen Opernfoyer sich zur Verfügung gestellt hatte. Während die fünf Verantwortlichen ebenso viele Stühle zur Verfügung hatten, mussten die leider nur wenigen Interessierten (ca. 34 Opernfreunde) die Veranstaltung stehend verfolgen; vielleicht verhinderte dies eine größere Versammlung. Auch der gleichzeitige Verkauf von Getränken im selben Raum ist höchst unglücklich; dies könnte man demnächst etwas besser gestalten. Und: Daß praktisch während des ganzen Gesprächs der berühmte As-Dur-Marsch in einer Endlosschleife im Hintergrund ertönte, war nervig, aber anscheinend dem Zeitgeist gewidmet – immerhin war das Regieleitmotiv "Spass und Show im Theater". Musikberieselung gehört dann wohl dazu.
Man erklärt übrigens diese Produktion ausdrücklich zur "Familen-Oper ab 10 Jahren" und spricht auch beim Einführungsgespräch von einem wichtigen Ziel, nämlich die Oper für jüngere Menschen akzeptabel machen zu wollen, quasi Schwellenängste abzubauen. "Man muss eine Oper auch ohne jede Vorbereitung und Vorkenntnis verstehen; sie muß sich dem Zuschauer eigentlich von alleine erschließen." D´accord! – sagt der Kritiker.
Erster Hinweis darauf sind die vielen bunten zirzensisch gekleideten Darsteller, die schon im Vorfeld das Haus durchschwirrend und überall und von fast jedem Besucher laut kichernd Selfies knipsen, oder zumindest so tun. Es sind dieselben Selfiemacher, denen wir später in der Oper auf Schritt und Tritt begegnen werden – quasi der Fil Rouge dieser Inszenierung. "Dezent angedeutete Gesellschaftskritik" murmelt mein Sitznachbar, als das gefühlte 571. Foto auf der Szenerie gemacht wird. (Anmerkung: die Produktion wird weder von Samsung, Sony oder Apple gesponsert – was meiner Meinung nach eine Schande ist). Außerdem gibt es Luftballons in Hülle und Fülle und Form, welche sich auch für Werbeaufdrucke geeignet hätten… Es gibt auch noch reichlich Konfetti – warum eigentlich keine Luftschlangen?
Doch gehen wir in medias res und schauen, was sich dann auf der Bühne so humorisiert – pars pro toto:
Truffaldino bringt Fata Morgana nicht zum Sturz, wobei sie normalerweise (zumindest in den üblichen Inszenierungen) auf den Rücken fällt und heftig, wie ein Käfer mit den Beinen strampelt, sondern er wirft ihr eine Handvoll Spaghetti ins Gesicht. "Ha, ha, ha, ha…."
Ja… das ist witziger kindgerechter Humor, den auch die Erwachsenen verstehen, die sich vor Spass bei der Premiere dabei bestens unterhaltend auf die Schenkel klatschen. Wirklich lustig! Obwohl ich zugeben muß, daß eine dazu über ihrem Kopf ausgedrückte Tube Ketchup noch die Krönung dieser Slapstick-Äkschen gewesen wäre. Einer Werferei mit Chicken-Nuggets (auch eine Form subtiler Gesellschaftskritik) hat wohl MacDonalds nicht zugestimmt. Könnten wir aber demnächst in die anstehende Rocky-Horror-Picture-Show einbauen…
Auch gibt es die obligate Sahnetorte, die ja nicht fehlen darf im teutonischen Humorkino. Sie wird allerdings nicht geworfen – warum eigentlich nicht? Nein, jene Sahnetorte, welche dieselben Buchstaben nämlich H,A,H,A vermutlich in Schokolade ziert, wie auf der Bühne in meterhohen Lettern präsent, wird vom König (der auch die Köchin singt – raffinierter Weise im selben Outfit) mit Boxhandschuhen matschig spritzend am Ende breitgeschlagen, daß die Sahne nur so herumspritzt und alle bekleckert. Schauen Sie, wie witzig das aussieht… Zum Brüllen komisch!
Leider rutscht niemand auf einer Bananenschale bzw. Schmutzigerem aus, oder wird nass gespritzt. Das wären nämlich die ergänzenden typischen restlichen zwei Grundpfeiler einer Quadrophonie des volksdeutschen populistischen Humors. Während Königssohn und Truffaldino durch die Wüste wieder nach Hause eilen, werden im Original-Märchen oder Oper die Orangen immer grösser – so dass sie einem Menschen Platz bieten, nämlich den Prinzessinen. Daher keine Rennerei durch die Wüste – der Prinz und Truffaldino sitzen einfach nur rum und langweilen sich anscheinend in klassischen Liegestühlen, als wären sie im Urlaub. Sie sonnen sich und nehmen Drinks an von einer smarten Krankenschwester als Bardame, die mitten in der Wüste eine Art Mini-Bar im Stil eines Langnese-Verkaufwagens aufgebaut hat. "Kritik an der omnipräsenten Reise- und Tourismus-Industrie" flüstert wieder mein Nachbar. Ob das die Kinder verstehen?
Genial aber einfach wird dann das Verdurstungs-Szenario gelöst, denn wenn Truffaldino eine Orange nach der anderen öffnet, kommen sukzessive die erwarteten Prinzessinnen hervor; aber nicht aus den Riesenorangen (die sind ja auch nicht da!) sondern entsteigen einem alten Wohnwagen.
Ein Wohnwagen mitten in der Wüste?
Aber, verehrte Musiktheaterfreunde, das ist expressionistisches Theater! Außerdem total witzig… finde ich. Gesellschaftskritik am deutschen Spießbürger, wobei ich allerdings bei Wohnwagen komischer Weise immer an Holländer denke, die mein schnelles Fortkommen in die Ferien auf der Autobahn behindern. Wagners "Der fliegende Holländer" im Wohnwagen – wow (!). Ich sollte Regisseur werden; das wäre mal ein Leitfaden für eine moderne Inszenierung. Doch ich schweife ab; daher schnell zurück zu Prokofjew:
Bevor nun die Prinzessinnen verdursten, gehen sie natürlich erst einmal logischer Weise zu der Minibar. Doch an der hat die garstige Krankenschwester gerade ein Schild angebracht auf dem steht "Geschlossen". Ich höre schon die Kinder in der nächsten Abo-Vorstellung rufen "Ohhhhhhhhhhh, ahhhhhhh". Ältere werden ggf. auch "Sauerei!" brüllen: "Mach doch die Bar wieder auf, bitte!"
Mittlerweile hat sich Truffaldino aber hinter diese Bar – obwohl geschlossen – begeben und quetscht genussvoll eine Orange nach der anderen mittels einer Saftpresse aus – "wie gemein!" höre ich schon wieder die imaginären Kinder rufen, als er alles alleine trinkt. Ich würde sagen: Dieser Bursche ist "ne fiesen Möpp" – ein Unsympathisant, während die Prinzessinen verdursten.
Netter Gag am Ende: Fata Morgana wird von den Sonderlingen nicht im Turm eingesperrt, sondern bekommt ihre Steuerbescheinigung überreicht, oder ist es ihre Entlassung. Was auch immer, sie ist entsetzt und verschwindet erst mal.
Persönliches Fazit: Die Inszenierung bzw. das Inszenierungsprinzip erschließt sich für mich durch ein Bild, welches jedes Elternteil, vielleicht auch Sie liebe Leser, nachvollziehen können:
Stellen Sie sich vor, Sie räumen abends das Zimmer Ihrer kleinen Kinder auf. Ordnung ins Chaos kriegt man nur – ich spreche da aus eigener Erfahrung – wenn man die ganzen tausend kleinen Figürchen, Legomännchen, Püppchen, Autos, Clowns….etc in einen großen Pappkarton einsammelt. Dann schütten Sie den ganzen Krempel auf einer kleinen Bühne aus und legen die Opernscheibe "Die Liebe zu den drei Orangen" von Prokofjew auf. Zufällig kommt die imaginäre Fee vorbei (vielleicht die bezaubernde Jeannie), kniept mit den Augen und alle Figuren leben plötzlich. Jeder macht was er will bzw. was ihm gerade einfällt; zur Musik muß es nicht unbedingt passen. So – jetzt haben Sie das Bühnenkonzept verstanden, hoffe ich. Sehenswert ist aber durchaus…
Die gesanglichen Leistungen, die unser Kollege Christoph Zimmermann (weiter unten) ausgiebig würdigt, waren ganz außerordentlich, dazu ein toller Chor und ein fulminant aufspielendes Orchester (Ltg. Johannes Pell). Selbst wenn Ihnen der Quatsch auf der Bühne nicht gefallen sollte, hören Sie, verehrte Opernfreunde, immerhin einen ausgezeichneten Prokofjew. Und wo gibt es den aktuell sonst?
Peter Bilsing 31.10.16
Bilder (c) Wuppertaler Bühnen / Strathmann