Wuppertal: „Johannespassion“

besucht: 3. Aufführung am 24.5.2015, Premiere am 22.5.2015

Biblische Oper mit Asylanten

oder „Der Balkan in Wuppertal“

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Es ist nicht erst seit John Neumeier, der die Bach´sche Matthäus-Passion bereits vor ca. 40 Jahren (und seither immer wieder) in Hamburg erfolgreich „vertanzen“ ließ, häufiger Usus, große Chorwerke wie Oratorien und Passionen szenisch aufzuführen. So ist Händel´s Saul in Bonn dem Rezensenten in allerbester Erinnerung; auch die Trinitatis-Kirche (der Kölner „evangelische Dom“) wurde soeben zum Spielort für die Johannespassion unter kompetenter Federführung des hiesigen Bachvereins, mit eingeflochtenem Schauspiel und Breakdance. Das alles ist kein Wunder, zumal man der Johannespassion gleich nach ihrem Entstehen 1724 durch den frisch ins Amt des Thomaskantors berufenen Johann Sebastian Bach allzu opernhafte Züge vorgeworfen hatte.

Nun also Wuppertal, wo die Erstaufführung der Passion bereits 1865 stattgefunden hatte. Der brave Bildungsbürger, vielleicht auch religiös engagiert, geht in eine „szenische“ Aufführung des Werkes und rechnet vielleicht mit begrenzten Aktivitäten von Chor und Solisten, zumal die Webseite des Hauses nicht viel hergab und die Lokalpresse aufgrund von nur vier unmittelbar hintereinander und über Pfingsten erfolgenden Aufführungen noch gar nicht berichten konnte. Vielleicht war auch von daher die Vorstellung nur leidlich besucht. Aber da hat sich der Zuschauer getäuscht, und zwar im positiven Sinne.

Geboten wurde – trotz des ernsten Sujets – alles, was die Oper zu bieten hat, ein blendend einstudiertes Hausorchester, ein fantastischer Chor, eine Szenerie, welche unter die Haut ging, und auch größtenteils sehr ordentliche Gesangsleistungen der Solisten. Und dazu ein Personenkreis, der in der biblischen Leidensgeschichte von Jesus nicht vorkommt: eine Gruppe von Asylanten, deren Schicksal vom Regisseur sehr eindrucksvoll in Szene gesetzt worden war: Philipp Harnoncourt, vielbeschäftigter Autor und Regisseur ist Sohn des in Alter Musik weltweit hochgelobten Dirigenten, der unverständlicherweise in seiner Vita nicht erwähnt ist.

Nun mag man sich fragen, ob mittels der Asylantenproblematik das Bach´sche Werk eine wie auch immer geartete Erhöhung erfährt, oder ob dieses Oratorium beim Zuschauer mehr Verständnis für die Flüchtlinge hervorruft. Denn der in der Regel gut gebildete Besucher einer solchen Aufführung bedarf solcher Nachhilfe nicht, die Presse ist ohnehin voll von Berichten über das Flüchtlingsdrama, und die relativ wenigen Zuschauer, welche die Aufführungen erreicht, bleiben im niedrigen vierstelligen Bereich. Wozu also das Ganze? Nun, die Kunst als Keimzelle einer neuen Sichtweise beginnt immer ganz klein, ganz unten.

Wilfried Buchholz (Bühne und Kostüme) hat eine Szenerie geschaffen, die mehr Multi-Kulti kaum sein kann. In einem rieseigen Sandkasten, sozusagen in der tiefsten Basis der Gesellschaft, steht ein weißer Quader aus Stoffbahnen, der an die Kaaba in Mekka erinnert. Von der Seite kommt ein Trupp malerisch gekleideter tatsächlicher Asylanten – in Wuppertal gecastet – mit ihrer Habe, schleppen gar einen Kocher mit, auf dem später Tee zubereitet wird. Sie kuschen in der Ecke und schauen dem Spiel zu. Die Protagonisten agieren in heutigem Outfit, auch der außerordentlich stimmschöne, bestens einstudierte kleine Chor, der seine vokalen Attacken gegenüber Pilatus als Stimme des Volkes oder in „Kreuzigt ihn“ aufregend und Rückenschauer produzierend herausschreit. Das absolute Highlight des Abends, großes Kompliment an Jens Bingert für seine Arbeit.

In der Prügelszene wirken Einzelne auch als Folterknechte mit schwarzer Gesichtsmaske. Nicht Jesus wird geschlagen (der persönlich auch gar nicht auftritt), sondern vier Asylanten, welchen Schilder mit „Drogendealer“, „Scheinasylant“ oder „Integrationsversager“ umhängen haben, wie einstens Jesus als „König der Juden“. Und in Anlehnung an aktuelle Vorfälle mit aufgesetzten Schweinsnasen. Sie werden gegeißelt, da kommt schon eine große Beklemmung auf, wenn sich die dahinterliegende Wand blutig färbt.

Die Kreuzigung passiert unter der hochgefahrenen Bühne, symbolisch für die Geschichte in zwei Ebenen. Auf eine große Blechtafel schreibt jemand „GOTT IST TODT, WIR HABEN IHN GETÖDTET“, eine Anspielung auf das Nietzsche-Zitat, und sicher bewusst orthografisch falsch. Die große Tafel, an dem viele Religionen und Völker gemeinsam tafelten, mag ein Hoffnungsscvhimmer für eine friedliche Welt sein. Und gut ist, dass der oft gescholtene Antisemitismus im Stück durch die bunte Szenerie überhaupt nicht zum Tragen kommt – es gibt ständig etwas Neues zu sehen.

Das zweite Highlight des Abends waren die Wuppertaler Sinfoniker, verstärkt durch Theorbe, Viola da Gamba, Oboe d´amore und eine kleine Orgel. Jörg Halubek, Hochschullehrer und ausgewiesener Spezialist historischer Aufführungspraxis, zauberte mit Opernorchester einen wunderbar barocken Klangteppich, hochpräzise und durchsichtig. Besonders erwähnenswert sei das Duo der beiden schwierig zu spielenden vielsaitigen Violen d´amore (Hikarua Moriyama und Momchil Terziyski)

Die Sängerriege mit Lucie Ceralová, Johannes Grau, Falko Hönisch und Jan Szurgot schlug sich durchgehend sehr wacker und spielfreudig, allen voran Laura Demjan mit jungem höhensicheren Sopran, Peter Paul als Pilatus und der wunderbare und umjubelte Emilio Pons als Evangelist.

Anstatt der im sakralen Bereich in der Mitte der Passion üblichen Predigt hatte der Regisseur hier Texte im Zusammenhang mit der Asylproblematik integriert; in der gesehenen dritten Vorstellung sprach Helge Lindh, Vorsitzender des Wuppertaler Integrationskreises. Sein Vortrag, hochaktuell und bewusst in einem Singsang gehalten, ging schon ein ganzes Stück an die Nieren, unterbrach nach der Meinung etlicher Zuhörer allerdings schon den musikalischen Bogen der Passion. Aber wenn es früher so war, warum nicht auch heute ? Der Rezensent gesteht freimütig, an einigen Stellen der Aufführung ein paar Tränchen verquetscht zu haben, denn der spontan stehende Applaus war zu Recht lang und gewaltig. Eine Wiederholung wird es erst gegen Ende der nächsten Spielzeit geben, man merke sich den Termin vor.

Michael Cramer 28.5.15

(c) Dank für die schönen Fotos von Uwe Stratmann

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