Bayreuth: Mythos Prometheus (Festival Junger Künstler)

Premiere: 11.8.2021

„Humanistischer Anspruch und inhuman-selbsttätig gewordene Akustik stoßen zusammen, fordern sich gegenseitig heraus“, wie Harald Kaufmann 1973 in der Neuen Zeitschrift für Musik schrieb (und wie es zitiert wurde im Programmheft der Nürnberger Produktion von 1995). Dabei stehen nicht einmal alle Schlaginstrumente im Rund des Raums, der sonst als Zuschauerraum dient. Statt vier Klaviere sind‘s „nur“ zwei, an denen jeweils zwei Pianisten sitzen, statt vier Harfen haben wir es mit zwei zu tun, statt der vorgesehenen 15 bis 18 Spieler bedienen „nur“ 11 Männer und Frauen die reduzierte Anzahl und Auswahl von Holzplatten, Xylophonen, Metallophonen, Glockenspielen, Tempelblöcken, Crotales, Pauken, Trommeln, Gongs, Hioschigis, Wasambas, O-Daikos etc. pp – die Liste der Schlaginstrumente in Orffs Prometheus-Partitur, zu denen in diesem Fall auch die Klaviere und Harfen gehören, ist schier beeindruckend. Carl Orff, dessen erfolgreichstes Werk, die Carmina Burana, trotz seiner Eigenart nicht ahnen ließ, wie sich der Altmeister der rhythmisch-klanglichen Radikalität in seinen letzten Werken entwickeln sollte, hat Ende der 60er Jahre ein Werk vorgelegt, das den Weg vollendete, den er kurz nach dem Krieg mit der Antigonae begonnen und mit dem Oedipus weiterführte. Werner Thomas, einer der Statthalter Orffs auf Erden, sprach von „pointillistischer Klangmagie“, wir hören enorme Eruptionen, Klangkaskaden, Donnerschläge, „fremdartig, hart und unerbittlich“, wie es im Programmheft des Abends völlig korrekt heißt. Die Musiker des Projektorchesters und die Sängerinnen des Frauenchors der Musikakademie „Gheorge Dima“ in Cluj Napoca holen unter der Leitung von Robin Engelen endlich die Musik eines Stücks nach Bayreuth, um zu belegen, dass der „alte Orff“, dessen sterbliche Überreste in einer Seitenkapelle der herrlich Himmlisches versprechenden Klosterkirche auf den heiligen Berg zu Andechs ruhen, uns musikalisch und inhaltlich immer noch einiges zu sagen hat. Die akustische performance gelingt schon einmal glänzend: bis hin zu den Schlegeln, die auf die Saiten der von ihren Deckeln befreiten Flügel schlagen.

Mythos Prometheus: der Abend fasst Teile aus Orffs Musiktheater, das von Wieland Wagner in Stuttgart hätte inszeniert werden sollen, und die Uraufführung einer Szenenfolge nach Percy Bysshe Shelleys Prometheus unbound zusammen; dass die Vorlage für das Libretto der Komposition Fredrik Schwenks nur auf der Homepage des Festivals, aber nicht im Programmheft genannt wird, ist seltsam und unerklärlich. Erklärlich aber ist die Inszenierung, weil das Schicksal des Protagonisten, dem Aischylos vor 2500 ein nach wie vor gespieltes Drama widmete, das Wagner bei der Konzeption seines Ring inspirierte, eine Aktualisierung erfährt, die unheimlich anmutet. Denn der Kampf gegen den furchtbaren Himmel und die Tatsache, dass der Titan in seinem Kampf gegen Zeus, der „ohne Gesetze“ regiert, den Menschen die Segnungen der Zivilisation, unter ihnen das Feuer, bringt und dafür furchtbar vom Olymp gestraft wird, ist eine Parabel, die auch dann funktioniert, wenn man sie mit den whistleblowern der Gegenwart parallelisiert. Der Mythos sei, sagte Wagner, für alle Zeiten wahr, dieser zeigt es in besonderer Weise. Und also sieht Georgios Iatrou – singend, rezitierend, sprechend – wie Edward Snowden aus, der seine „Victims“-Aktenordner durchblättert, während er sich auf seinen vier Quadratmetern – auf dem Turm, der inmitten der Instrumente steht – wie Julian Assange in der Enge bewegt und, das ist pure Absicht, seine zwischen Wahnsinn und Prophetie changierenden Allmachtsfantasien („Auch Zeus wird stürzen“) in jenem Moment verkündet, in dem die Kamera ihn als Opfer des großen Auges von oben in den Blick nimmt. Es hätte also der Filmcollage mit den Bösewichten Putin, Lukaschenko und Ceaucescu, mit den Bildern vom niedergeschlagenen Prager 68er-Frühling und den Freiheitskämpfern von Gestern und Heute, nicht bedurft, um zu zeigen, um was und wen es hier geht. Die Regisseurin Michaela Dicu, die ihr Handwerk in Hamburg und Stuttgart lernte und laut Programmheft mit Peter Konwitschny zusammenarbeitete, verfiel hier dem Fehler, den pädagogischen Hammer zu schwingen. Ansonsten: keine Klagen, denn die Interaktion mit seinem Großvater Okeanos, der ihm, goldene Funken sprühend, rät, sich dem Diktator zu unterwerfen („Neues Denken tut not“), und die Begegnung mit der verfolgten Io, einem Mädchen im Hoodie, reicht aus, um das Wesentliche über das Verhältnis der freien Presse zu den Tyrannen zu sagen. James Young hat einen Auftritt mit perkussivem Donnerschlag, Caroline Adler entzückt durch Vokalisen des Schmerzes, die so schön klingen, dass der Hörer wünscht, dass sie niemals enden mögen.

„In Aischylos’ Gefesseltem Prometheus“, schrieb Shelley 1820, „kommt die Versöhnung des Zeus mit seinem Opfer um den Preis der Entdeckung zu Stande, welche dem olympischen Thron aus der Vermählung mit Thetis zu erwachsen droht. In Wahrheit aber war ich einer Katastrophe abgeneigt, die schwächlich genug ist, den Vorkämpfer der Menschheit mit ihrem Unterdrücker zu versöhnen. Das sittliche Interesse an der Handlung, welches durch die Leiden und die Standhaftigkeit des Titanen so mächtig erregt wird, müsste vernichtet werden, wenn wir uns ihn denken könnten, wie er seine hohen Worte zurücknimmt und sich vor seinem siegreichen und meineidigen Gegner beugt.“ Das Spiel zwischen Sieger und Besiegtem ändert sich, weil der Diktator gestürzt wird; bei Schwenk entstehen plötzlich lyrische Töne, bei der Freiheitsverkündigung entlädt sich das Orchester in unglaublich differenzierten, schwungvollen Rhythmen, zwischen Ione (wie Io hier heißt) und ihren beiden Okeaniden-Schwestern entsteht eine Barcarole, zusammen mit Prometheus singt sie ein Duett, das man als „soft“ bezeichnen muss, weil es die Utopie aussingt, dass nun alles alles gut sei. Hier würde, heißt es im Waschzettel zur Aufführung, der „frühromantische Idealismus in Frage gestellt“. Es ist nicht die Musik als „Echo des Herzens“, es ist nicht die Klangmagie, es sind nicht die zauberhaften Glissandi, sondern das Schlussbild, das die Kritik am Helden Prometheus formuliert. Während die Rollos im Europasaal hochfahren und die Abendsonne hineinscheint, sehen wir auf den drei Leinwänden ein Live-Bild jenes Objekts, auf das wir schauen, wenn wir den Blick nach draußen richten: das Modell der Weltkugel.

Wie war das nochmal mit dem Feuer?

Frank Piontek, 12.8.2021

Foto: ©Festival Junger Künstler / Astrid Loos