Hamburg: Das Hamburg Ballett ist zurück

Eigentlich wollte John Neumeier aus Anlass von Beethovens 250. Geburtstag dessen 9. Sinfonie choreografieren, kam aber zu der Einsicht, dass der Schlüsselsatz der Ode an die Freude, „Seid umschlungen, Millionen!“, in Zeiten der Pandemie tänzerisch nicht umzusetzen sei. Basierend auf den Erfahrungen mit dem erfolgreichen Abend Beethoven-Projekt I von 2018 entschied sich der Choreograf für dessen Fortsetzung mit ähnlicher Konzeption – also einer Kombination von mehreren Werken des Komponisten. Die Generalprobe konnte am 4. Dezember des vergangenen Jahres noch stattfinden, die Premiere aber fiel den Lockdown-Anordnungen zum Opfer.

Im Rahmen der Wiedereröffnung des Hauses war am 29. Mai 2021 endlich die Uraufführung von Beethoven-Projekt II zu erleben. Die Musikauswahl ist ungewöhnlich vielseitig und umfasst neben Kammermusik und Auszügen aus dem Oratorium Christus am Ölberge mit der Sinfonie Nr. 7 A-Dur op. 92 auch ein großes sinfonisches Werk. Entsprechend ist der Abend in zwei Teile gegliedert – Hausmusik und Tanz! Im ersten Abschnitt erklingt zu Beginn die Sonate für Klavier und Violine Nr. 7 c-Moll op. 30, Nr. 2 – von Mari Kodama am Flügel auf der linken Bühnenseite und Anton Barachovsky an der Geige engagiert und virtuos musiziert. Der mit dem Hamburg Ballett besonders verbundene Tenor Klaus Florian Vogt sang danach Recitativo und Aria des Christus („Jehova, du mein Vater!/Meine Seele ist erschüttert“) mit klagendem Schmerzenston und starkem stimmlichem Einsatz. In der den ersten Teil abschließenden Klaviersonate Nr. 21 C-Dur op. 53, der „Waldstein-Sonate“, konnte die Pianistin nochmals mit ihrem technischen Vermögen brillieren und darüber hinaus mit der differenzierten Wiedergabe der einzelnen Sätze beeindrucken. Bei all diesen Musikstücken sind mehrere Tänzer um den Flügel und die ausführenden Künstler gruppiert, was den Eindruck von Hausmusik, wie sie zu Lebzeiten des Komponisten gepflegt wurde, evoziert. Das Philharmonische Staatsorchester mit seinem Generalmusiker Kent Nagano am Pult ist im Hintergrund der Bühne platziert, wird quasi in das Geschehen einbezogen, denn die Tänzer agieren vor, hinter und über dem Orchester. Bühnenbildner Heinrich Tröger hat dafür eine zweite, erhöhe Ebene im Hintergrund geschaffen, deren grafische Ornamente wie der Bühnenboden in den Farben wechseln. Hoch elegante Kreationen für die Damen erdachte Albert Kriemler vom Schweizer Mode-Label A-K-R-I-S.

Wie schon in der 1. Folge ist dem katalanischen Tänzer Aleix Martinez eine tragende Rolle zugeordnet. In der Verkörperung des Komponisten gelingt ihm das fesselnde Porträt eines Menschen, der von seiner kommenden Ertaubung erfahren hat und gegen dieses Schicksal aufbegehrt. Diese existentielle Situation setzt Neumeier – wie es bereits in der 1. Folge zu sehen war – mit marionettenhaft abgehackten Bewegungen, hektischem Zappeln und pathologischen Zuckungen um. Aber in den Pas de deux mit Jacopo Belussi (im 1. und 4. Satz der Violinsonate sowie in den Auszügen des Oratoriums) kann der Tänzer auch mit berührend lyrischer Empfindung aufwarten, sowie mit Hélène Bouchet (im 2. Satz und in der „Waldstein-Sonate“) akrobatische Hebefiguren zeigen. Diese Teile zählen zu den gelungensten choreografischen Einfällen des ersten Abschnittes. Entstanden dessen Werke alle in der Zeit des Heiligenstädter Testaments 1802, als Beethoven von seiner Erkrankung erfuhr, so atmet die Musik des zweiten Teiles pure Lebensfreude. Schon Richard Wagner gab der 7. Sinfonie den Titel „Apotheose des Tanzes“, denn kein anderes Werk Beethovens ist so geprägt von tänzerischen Rhythmen und ausgelassener Vitalität. Dirigent Kent Nagano setzt auf entsprechend zügige Tempi und permanenten Fluss, was mit Neumeiers gleichermaßen mitreißender wie berührender Choreografie eine ideale Symbiose ergibt. Mit dieser Deutung erinnert er an seine legendären tänzerischen Umsetzungen der großen Sinfonien Gustav Mahlers. Bevor sich das gesamte Ensemble im Schluss-Satz Allegro con brio zu einem fulminanten Finale voller Elan, Tempo und Heiterkeit vereint, sieht man in den ersten Sätzen einige von Hamburgs Spitzentänzern. So im 1. Satz Poco sostenuto – Vivace den jungen Atte Kilpinen, der schon in Neumeiers Ghostlight sein enormes Talent demonstriert hatte und auch hier in einem Duo mit der reizenden Ida- Sofia Stempelmann mit enormer Schnelligkeit, gespannter Energie und stupender Präzision verblüfft. Mit nacktem Oberkörper und langem schwarzem Rock ist er auch optisch ein reizvoller Kontrast zu seiner Partnerin im weißen Kleid mit unterem Hohlsaum-Rand. Das derzeit führende Paar des Ensembles – Anna Laudere (in einem eleganten blauen Kleid) und Edvin Revazov (im schwarzen Lederhemd) – ist im 2. Satz Alegretto zu sehen, wie stets gefühlsbetont und voller Hingabe. Madoka Sugai und Alexandr Trusch – seit beider Auftritt in Don Quixote ein Traumpaar – sorgen im 3. Satz Presto – Assai meno presto für einen tänzerischen Wirbelsturm in rasantem Tempo und von imponierender Energie. Im 4. Satz agiert Trusch dann wie ein Vortänzer, dem die gesamte Compagnie mit dem Ausdruck von Glück und Optimismus folgt. Das Beethoven-Projekt II ist Neumeiers 165. Ballett – entstanden unter besonderen Bedingungen und am Ende der Premiere vom Publikum frenetisch bejubelt.

Bernd Hoppe 2.6.2021