Ludwigshafen: „Das Rheingold“

Besuchte Aufführung: 21. 4. 2013 (Premiere in Ludwigshafen: 5. 11. 2010)

Ihrem Ende eilen sie zu

Es stellte schon ein gewaltiges Unternehmen dar, dass da in den letzten drei Jahren von den Opernhäusern in Ludwigshafen und Halle verwirklicht wurde: Auf Initiative des Haller GMD Karl-Heinz Steffens brachten sie in Kooperation Wagners kompletten „Ring des Nibelungen“ auf die Bühne. Die Premieren fanden im Wechsel in Halle und Ludwigshafen statt. Inszenierung, Bühnenbild und Kostüme lagen in den bewährten Händen des Ludwigshafener Intendanten und Regiealtmeisters Hansgünther Heyme, Steffens übernahm die musikalische Leitung. Nun hatte dieses riesige Unterfangen am Rhein nicht nur Befürworter. Wozu brauche man in Ludwigshafen einen „Ring“, wenn im benachbarten Mannheim Wagners Tetralogie zur gleichen Zeit ebenfalls gestemmt werde, war nur eines der zahlreichen Argumente dagegen. Es gab viele Skeptiker, auch im Rathaus, die an ein Gelingen des Projekts nicht glauben wollten. Indes sollten alle diese Zweifler eines Besseren belehrt werden. Das Vorhaben gelang nicht nur allen Unkenrufen zum Trotz, das Ergebnis war darüber hinaus auch in künstlerischer Hinsicht ganz hervorragend und in hohem Maße geeignet, Heymes großartige Arbeit weit über die regionalen Grenzen hinaus bekannt zu machen. Jetzt geht dieser „Ring“, der „konzeptionell eng mit Stadt und Region Ludwigshafen verbunden ist, aus ihnen seine Bilder schöpft und etwas über ihre Urbanität erzählt“ (so Heyme im soeben erschienenen Buch „Wagners Auftrag“), zum ersten Mal als Zyklus über die Bühne des Pfalzbaus Ludwigshafen, nachdem er im März bereits in Halle das erste Mal gesamt gegeben wurde. Und bereits beim einleitende „Rheingold“ wurde deutlich, dass Heyme und Steffens, der seit der Saison 2009/10 auch das Amt des GMD der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz innehat, der gesamten Metropolregion Rhein-Neckar kein schöneres Geschenk zum Wagner-Jahr 2013 machen konnten als diesen überaus gelungenen „Ring“, den der Regisseur in dem eben erwähnten Buch als „Liebeserklärung an Ludwigshafen“, als sein „Geschenk an diese Sozietät“ verstanden haben will.

Wagners groß angelegte Tetralogie ist voll von tragischen Elementen. Geschildert wird der allmähliche Verfall einer alten Welt, die am Ende mit Siegfried den letzten Garanten ihrer Erneuerung verliert. Aber: Das Alte geht nicht ersatzlos unter. Am Schluss der „Götterdämmerung“ steht die Hoffnung. Mit den Klängen des Erlösungsmotives beschwört Wagner in der Schöpfungstonart Des-Dur ein neues, auf Liebe beruhendes Zeitalter herauf, das frei von Hass und Egoismus ist. Der „Ring“ ist mithin eigentlich gar kein pessimistisches, an Schopenhauer angelehntes und destruktives Stück, sondern im Gegenteil ein optimistisches, lebensbejahendes Werk, dass den Weg in eine bessere Zukunft weist. Dem entspricht der von Jugendlichen aus Halle geschaffene „Vorhang der Hoffnung“, der an die Stelle eines normalen Theatervorhangs tritt. Auf ihn haben die jungen Leute auf 70×70 Zentimeter großen Stoffquadraten geschrieben, was sie von ihrer Zukunft erhoffen. Die Hoffnung bleibt mithin die ganze Zeit über präsent. Gleichmäßig auf den Vorhang verteilt prangt der von Ernst Bloch stammende Spruch „Vor-Schein auf der fernsichtreichen Höhe der Zeit“, der den Zuschauer auf die noch folgenden Ereignisse der kommenden Abende neugierig machen soll. Hier wird nachhaltig die Utopie einer Zuversicht formuliert, die allerdings zu den oft desolaten, wenig Trost verheißenden Gegebenheiten der Gegenwart in krassem Widerspruch steht, aber auch zu der den rechten Teil der Bühne einnehmenden „Wand des Todes“, deren einzelne Segmente Assoziationen an Urnengräber als Symbole der Endlichkeit hervorrufen, einen sinnfälligen Antagonismus darstellen. In diesen kleinen durch Zahlen und Buchstaben gekennzeichneten kleinen Kammern werden Erinnerungstücke an einzelne Verstorbene aufbewahrt. So landen beispielsweise die Schuhe des von Fafner erdrosselten Fasolt in einem dieser Tresore, während zwei symbolische Todesengel über dem Geschehen schweben. Tod und Untergang der Götter sind bereits in diesem frühen Stadium der Geschichte gegenwärtig. Loges Quintessenz „Ihrem Ende eilen sie zu“ ist zutreffend. Bereits von seinem allerersten Auftreten an ist dieser etwas lächerlich und unbedarft anmutende Haufen von Weltbeherrschern dem Untergang geweiht. Ausgangspunkt von Heymes Deutung ist mithin auch die abschließende „Götterdämmerung“. Das wird bereits ganz am Anfang, noch vor dem Einsetzen des Vorspiels, offenkundig, wenn der Regisseur zwei Kinder Textpassagen aus der Nornenszene des dritten Tages des Zyklus vortragen lässt. Er rollt die Handlung gleichsam von hinten auf, erzählt das Ganze als Rückblende – ein nicht mehr neuer, aber effektvoller Einfall.

Heyme ist ein Meister seines Fachs, der seine Sänger hervorragend zu führen versteht und den szenischen Spannungsbogen konsequent durchzieht. Dass er kein altbackenes Märchen auf die Bühne bringen, sondern das Geschehen in einem zeitgenössische Rahmen ansiedeln würde, war zu erwarten. Indes geht es ihm nicht um eine vordergründige Aktualisierung, sondern gleichsam um eine Modernisierung von innen heraus. Einfühlsam stellt er die Frage, welche Relevanz den mythischen Wurzeln des Werkes für unsere Gegenwart noch zukommt. Es ist großes Welttheater, das Heyme auf die Bühne stellt und politisch-gesellschaftliche Probleme einfühlsam mit einem bürgerlichen Familiendrama Strindberg’scher Prägung verbindet. Bei seiner ausgeprägten Kritik an der kapitalistischen Wohlstandsgesellschaft, deren Auswüchse bereits zu Beginn eine Verschmutzung des Rheines nach sich gezogen haben – der Ansatz von Robert Carsen in Köln war ähnlich -, lässt sich der Regisseur auch von den Erkenntnissen eines George-Bernard Shaw leiten, dessen Postulat „ dass es sich bei dem ‚Ring’ um ein „Drama der Gegenwart und nicht um eines aus ferner und sagenhafter Vorzeit“ handele“, für ihn nur zu wahr ist. Im Zentrum seiner Interpretation steht Wotan, Paradebeispiel eines Machtmenschen, der sich durch seinen Urfrevel an der Weltesche an der Natur versündigt hat, was eine unaufhaltsame zerstörerische Kettenreaktion nach sich zieht, die unsere Umwelt immer mehr schädigt. Dieser Prozess setzte bereits zu Wagners Zeit ein, diese Thematik war damals mithin genauso aktuell wie heute. Der Versuch des hier noch jungen Göttervaters, den Erdkreis durch Verträge zu binden und zu zivilisieren, beruht auf Sünde und Verbrechen. Wo die Wurzeln verdorben sind, ist aber die Auflösung schon vorprogrammiert. Das ist einer der Grundaussagen Heymes, die für jedes Zeitalter zutrifft. Wotans Speer dient nicht mehr länger dem Schutz des Vertragswesens, sondern wird nachhaltig zu einem Sinnbild des Makels degradiert, der alle Lebensbereiche erfasst.

Es ist kein abgehobener Mythos, den Heyme hier geradlinig erzählt, sondern zeitgemäßes Alltagsleben in allen seinen Ausprägungen. Althergebrachte hehre Inhalte deutet er in manchmal recht banal anmutende Situationen um, wobei er dem Zuschauer geschickt den Spiegel vorhält. Das Institut der Ehe wird am Beispiel von Wotan und Fricka genauso auf die Schippe genommen wie die Dominanz des Sexus über den Menschen. Letzterem entspricht es, dass Erda als hübsche, junge Prostituierte in schwarzem Hemd auftritt, die ihre Warnung durch einen Bilderrahmen singt. Das Urweibliche erscheint so als Projektion der niedrigen Instinkte einer sexhörigen Männerwelt. Die Rheintöchter sind nicht mehr länger einfache Naturwesen, sondern nur noch reichlich egoistische und stark ihrer Eitelkeit frönende lüsterne Verführerinnen, deren abweisendes Verhalten den Goldraub des zuerst gar nicht böse, sondern cool und lässig mit den Händen in den Hosentaschen auftretenden und zudem gut aussehenden Alberich, der sich an Pornoheften aufgeilt, als durchaus verständliche Trotztat erscheinen lassen. Wagners Antisemitismus wird von Heyme ebenfalls dergestalt kritisch unter die Lupe genommen, als er die Riesen als schwarz gewandete, jüdische anmutende Zimmerleute mit Hüten und Schulterbalken vorführt, die Kinder als billige Arbeitssklaven missbrauchen. Auch die geknechteten Nibelungen, die per Schwarz-Weiß-Film auf den Hintergrund projiziert werden, gehören der jungen Generation an. Das alles war bereits im 19. Jahrhundert hoch aktuell. Einfühlsam zeichnet Heyme hier das Bild einer degenerierten Klassengesellschaft, die an ihren eigenen Errungenschaften zugrunde geht. Sie wird Opfer der von ihr selbst in die Wege geleiteten Industrialisierung. Ihr Untergang ist systemimmanent und unausweichlich. Die Schöpfung beinhaltet bereits den Weltuntergang. Dem vermag der strippenziehende Theaterdirektor Wotan nichts entgegenzusetzen, auch deswegen, weil er in dem mephistophelischen, immateriell wirkenden Entertainer und ausgemachtem Machiavellisten Loge nicht wirklich einen Helfer auf seiner Seite hat. Dessen nur scheinbar gut gemeinte Ratschläge erweisen sich letztlich als kontraproduktiv und beschleunigen den Weg zum Abgrund nur. Die gutbürgerlichen Götter landen symbolisch auf ihrem eigenen Foltertisch, der an diesem Abend einmal aufgrund einer technischen Panne ungewollt mit dem vom Schnürboden herabfahrenden, aus mehreren Kammern bestehenden Metallkonstruktion Walhall kollidierte. Das aber nur am Rande. Insgesamt haben wir es hier mit einer gelungenen, den Sinn des Stückes trotz Modernisierung nicht verfälschenden Inszenierung zu tun, die Hansgünther Heyme alle Ehre macht.

GMD Karl Heinz Steffens ist kein Anhänger schwerer, pastoser und schwülstiger Klänge. Entsprechend dem narrativen Charakter des „Rheingolds“ präsentierte er die Musik mit kammermusikalischer Leichtigkeit und großer Frische, ohne dabei aber das Schicksalhafte zu verleugnen. Die bestens aufgelegte Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz ließ er nur bei den reinen Orchesterpassagen voll und imposant aufspielen. Sobald die Sänger mit ins Spiel kamen, schraubte er den Lautstärkepegel behutsam hinunter. Er deckte die Solisten, die man durch die Bank hervorragend verstand, an keiner Stelle zu und trug sie gleichsam auf Händen. Wenn das Klangbild zum größten Teil trocken wirkte und mehr als einmal auseinander zu fallen schien, ist das sicher weniger den Instrumentalisten, deren Leistung sich innerhalb der vergangenen drei Jahre in puncto Zusammenspiel, Aufeinanderhören und Phrasierung ganz erheblich verbessert hat, als vielmehr der sehr schlechten Akustik im Pfalzbau anzukreiden. Insbesondere der das Parkett ausfüllende Teppich schluckte sehr viel vom Klang. Wenn er entfernt würde, wäre schon viel gewonnen.

Von den Sängern vermochte an erster Stelle Gerd Vogel als Alberich zu begeistern, der sich als wahres Bühnentier erwies. Er spielte den Nibelungen mit umwerfender Intensität und wurde seinem Part aufgrund einer wunderbaren italienischen Technik und hellem, sonorem Stimmklang auch gesanglich mehr als gerecht. Das war eine Glanzleistung, die ihn für Bayreuth qualifizierte. Nicht minder beeindruckend war Thomas Mohr, der mit seinem ebenfalls gut focussierten, tiefgründigen und ausdrucksstark geführten Tenor baritonaler Herkunft – sein Bruchton ist das ‚e’ – dem Loge ein sehr gefälliges Profil gab. In jeder Beziehung überzeugend war auch Gérard Kim, der vielleicht nicht der stimmgewaltigste Wotan ist, sich mit vollem, rundem Bariton italienischer Schulung aber dennoch als gute Besetzung für den Obergott erwies. Prachtvolles, wohlklingendes Bassmaterial brachte Christoph Stegemann, den man noch aus seiner Zeit in Pforzheim her in guter Erinnerung hatte, für den Fafner mit. Ein kräftig und markant singender Donner war Asgeir Pall Agustsson. Die Fricka von Gundula Hintz zeichnete sich durch damenhaftes Auftreten und einen tadellosen, elegant dahinfließenden Mezzosopran aus. Nicht minder beeindruckend Julia Faylenbogen s imposant und tiefsinnig gesungene Erda. Anke Berndt gab die Freia in der Mittellage mit kräftigem Sopran solide, neigte in der Höhe aber manchmal dazu, vom Körper wegzugehen. Nicht gerade sehr ausgeprägt klang der Fasolt von Alexander Vassiliev. Als Sträfling Mime sang Ralph Ertel ziemlich in die Maske. Äußerst dünnstimmig und bar jeder soliden Körperstütze präsentierten sich Nils Giesecke (Froh) und die Rheintöchter von Ines Lex (Woglinde), Melanie Hirsch (Wellgunde) und – zumindest in der Höhe – Sandra Maxheimer (Floßhilde).

Ludwig Steinbach, 24. 4. 2013

Die Bilder stammen von Gert Kiermeyer.