Köln: „Oyayaye“ – Offenbach-Ausgrabung

Gürzenich-Orchester

Alexander Bloch (Leitung), Pablo Ferrández (Cello), Matthias Klink (Tenor)

Hagen Matzeit

Offenbach-Wahnsinn auf ferner Insel

2015 wurde die Kölner Offenbach-Gesellschaft gegründet, nicht zuletzt mit Blick auf das nunmehr angebrochene Jubiläumsjahr (200. Geburtstag). Denn der in Köln geborene, dann aber gänzlich französisierte Komponist ist lediglich durch eine Reihe populärer Werke bekannt. Etliches ist lediglich lexikalisch bekannt, Notenmaterial zudem vielfach auf der Welt verstreut. Diese Situation soll sich ändern. Die Kölner Oper wird im Juni „Die Herzogin von Gérolstein“ und eine spezielle Offenbachiade herausbringen sowie Produktionen von „Fantasio“ (Opera Zuid Maastricht) und „Barkouf“ (Opéra Strasbourg) einladen. Bei der Kinderoper wurde bereits die äußerst geglückte Spezialfassung von „Hoffmanns Erzählungen“ wiederaufgenommen. Die Kölner Kammeroper in Pulheim spielt „Orpheus in der Unterwelt“, in der Volksbühne am Rudolfplatz werden die Einakter „Insel Tulipatan“ und „Salon Pitzelberger“ (Pamy Produktion) sowie eine rheinisch gefärbte Offenbachiade präsentiert. Auch sonst ist über das Jahr hinweg viel los.

Die Phonoindustrie hingegen hält sich – die Abschweifung sei erlaubt – in Sachen Offenbach einigermaßen zurück. Eine kombinierte Wiederauflage von „Helena“, „Orpheus“ und „Gérolstein“ unter dem Dirigat von Marc Minkowski bedeutet editorisch nicht eben viel, das etwas anonyme Label Forlane legt ältere Anthologien mit historischen Aufnahmen aus weitgehend unbekannten Werken wieder auf. Darüber hinaus bleiben Gesamtaufnahmen aus jüngerer Zeit (vor allem mit Anneliese Rothenberger & Co) verfügbar. Doch Offenbach-würdig ist das eigentlich kaum.

Köln hat nun aber zugeschlagen, genauer: das Gürzenich-Orchester der Stadt. Es bot ein Neujahrskonzert unter dem feschen und alerten Jung-Dirigenten Alexandre Bloch (Chef in Lille, erster Gastdirigent bei den Düsseldorfer Symphonikern, Gründer des Orchestre Antipodes) mit Bekanntem und Unbekannterem. So bekam man beispielsweise die Barcarolen-durchleuchtete Ouvertüre zu den „Rheinnixen“ ebenso zu hören wie einen harmonisch raffinierten Walzer aus „Barkouf“ sowie „Introduction, Prière und Bolero“ für Cello und Orchester (aus „Grande Scène espagnole“ opus 22), eine von rund 175 Kompositionen für Offenbachs ureigenes Instrument. Die World Premiere fand erst 2007 in Zürich unter Minkowski statt, von Bloch gibt es eine CD-Aufnahme mit der jungen Cellistin Camille Thomas. Der 28jährige Spanier Pablo Ferrández bot das Werk in Köln mit allen notwendigen virtuosen Finessen. Als Zugabe spielte er mit seinem Gürzenich-Kollegen Bonian Tian ein Cello-Duo. Nicht unerwähnt bleiben dürfen die Ansprachen der Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker und des NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet, beide Reden angenehm kurz.

Dann aber der Clou. Seit 1855 war von „Oyayaye ou la Reine des lies“ („Oyayaye oder Die Königin der Inseln“) nichts zu hören gewesen, selbst bei Wikpedia mit ihren stets akribischen Ergänzungen fehlt ein Titelhinweis. Nun aber gibt es einen Jean-Christophe Keck, oberste Autorität in Sachen Offenbach. Seit Jahren ist er weltweit auf Spurensuche nach verlorenem (oder verloren geglaubtem) Notenmaterial. Die Oper „Les contes d’Hoffmann“ kann ein Lied davon singen.

Neueste Rekonstruktion ist nunmehr „Oyayaye“. Hier handelt es sich um eine der ersten vollgültigen „Offenbachiaden“. Die Premiere fand kurioserweise nicht in den Bouffes Parisiennes statt, sondern im Théâtre Marigny beim „Konkurrenten“ Hervé. Das Aufführungsmaterial ist verschollen, Keck erarbeitete das Libretto aus erhaltenen Rollenbüchern und dem Zensurlibretto (französische Nationalbibliothek). Von der Musik existieren lediglich fragmentarische vokale und instrumentale Aufzeichnungen. Das Ganze wurde von Keck im Stile Offenbachs neu orchestriert. Ein „Marche des sauvages“ („Marsch der Wilden“) fand sich in amerikanischem Familienbesitz, die verlorene Ouvertüre ersetzte Keck durch die von „Vent du soir ou L’horrible festin“ („Häuptling Abendwind“), eine durchaus legitime Maßnahme.

Das Sujet der „musikalischen Menschenfresserei“ („Anthropophagle musicale“ – auf ein Libretto von Jules Moinaux) ist wahrhaft verrückt. Der Kontrabassist Ràcle-à-mort (auf deutsch Schrubbdichwund oder Kratzmichtot) wird wegen eines Blackouts bei einem Konzert gefeuert (aus dem Gürzenich-Orchester – diese lokale Pointe gestatteten sich die Übersetzer) und landet flüchtend auf einer fernen Insel. Hier wird sein Leben nun aber bedroht, falls er nicht das Unterhaltungsbedürfnis des Volkes und seiner Queen ausgiebig befriedigt.

Diese Vorgänge sind wie gesagt gänzlich absurd, historisch allerdings äußerst anspielungsreich (Vergnügungssucht der Pariser). Das dürfte heute kaum mehr zu vergegenwärtigen sein, aber eine schrille Komödie ist immer irgendwie denkbar. Ihre Wirkung hängt allerdings von brillianten Sängerdarstellern ab. In der Kölner Philharmonie standen sie zur Verfügung. Zum einen in Person von Matthias Klink. In jüngerer Zeit wurde er besonders für sein sensibles Porträt von Brittens Aschenbach in „Death in Venice“ gelobt und in weiteren anspruchsvollen Partien gefeiert. Aber er ist (wie auch seine Frau, die Sopranistin Natalie Karl) der Operette zugetan. Es fällt schwer einzugestehen, daß dieser großartige Tenor von Hagen Matzeit noch um Einiges überflügelt wurde. Für die Titelpartie war er innerhalb von zehn Tagen eingesprungen (die Deutsche Oper am Rhein gab ihn aus den WA-Proben für „Xerxes“ frei). In dieser Zeit lernte er nicht nur seine herausfordernde Partie auswendig (französischer Gesangstext, deutsche Dialoge), sondern prägte die Aufführung in der andeutenden Regie von Sabine Hartmannshenn (erfrischende Zuarbeit durch die Kostüme von Lena Kremer) auch durch enorme szenische Präsenz. Seine künstlerische Tätigkeit ist ohnehin von einer beispiellosen Weitläufigkeit (Sänger, Filmkomponist, Produzent, Pop-Duo mit seinem Bruder Friedemann). In Köln durchraste er ironisierend all seine Stimmlagen (Bariton, Tenor, Countertenor).

Offenbachs Musik begnügt sich oft mit einer sekundären Funktion, zeigt aber an vielen Stellen, welcher Witz in auch noch so kleinen Details stecken kann. Alexandre Bloch und das Gürzenich-Orchester veranstalteten, wo es sein mußte, eine Riesenshow. Beim zugegebenen „Orpheus“-Cancan natürlich Klatschmarsch. Ohne Szene dürfte bei „Oyayaye“ übrigens kaum etwas laufen, insofern darf man der Inszenierung an den Münchner Kammerspielen am 9. Februar (zusammen mit „Pomme d’api“) mit einiger Spannung entgegensehen.

Bei Offenbach gibt es noch unendlich viel zu entdecken. Umso tragischer, daß der Einsturz des Historischen Archivs in Köln 2009 das dort lagernde Material massiv beschädigte. Wie weit alles restauratorisch aufgearbeitet werden kann, steht noch nicht endgültig fest. Aber man läßt den Kopf nicht hängen. Jean-Christophe Keck beispielsweise, noch keineswegs im Rentenalter, denkt bereits über einen Nachfolger nach. Offenbach-Forschung ist nun einmal ein Langzeitprojekt. Die Kölner Offenbach-Gesellschaft wird ihm dabei womöglich eine Hilfe sein.

© Kölner Offenbach-Gesellschaft / Thomas Kost

Christoph Zimmermann 7.1.2019