Zürich: L’ Enfance du Christ

Der grosse britische Dirigent und Berlioz-Spezialist, Sir Colin Davis, sagte einst in einem Interview über Berlioz‘ L’ENFANCE DU CHRIST: "If you’re not moved by it, well I’m sorry for you, you’ll have to move on." Wie recht er mit dieser Aussage hatte, erwies sich gestern Abend in der Tonhalle Zürich. Niemand musste weiter ziehen, im Gegenteil, an manchen Stellen wollte man frei nach Goethe ausrufen "Augenblick, verweile doch, du bist so schön!" Im Saal herrschte eine unglaublich konzentrierte Stille, und an manch einer der so ergreifend schönen Momente löste sich bestimmt bei einigen Zuhörern leise eine kleine Träne. Gerade in den Szenen der Heiligen Familie verströmte die Musik, sanft im Dreiertakt (3/4, 3/8, 6/8, 9/8) wiegend, eine berührendeTröstlichkeit, welche vom Tonhalle-Orchester Zürich unter der Leitung von Sir John Eliot Gardiner mit warmer, transparenter Klanglichkeit erfüllt wurde. Trotz all der – bei Berlioz ungewohnten – Zurücknahme der protzenden orchestralen Kraft, trägt auch dieses Werk unverkennbar seine Handschrift.

Die epochale Kunst seiner Instrumentierung zeigt sich nämlich auch darin, dass die grandiose Kraft auch im verhaltenen Duktus ihre Wirkung entfaltet. Die gleich einem Herzschlag unerbittlich und doch weich schlagende Pauke, die meisterhafte Behandlung des Holzbläsersatzes, die kunstvoll fugierten oder Kanon artigen Passagen und der sparsame, doch wirkungsvolle Einsatz des Blechs wurden vom Orchester unter der sublimen Leitung von Sir John Eliot Gardiner mit fein abgestufter Dynamik mit Leben erfüllt. Beinahe theatralisch, opernhaft kam der Anfang des Werks daher,LE SONGE D’HÉRODE. Der Erzähler führte kurz ins Geschehen vor 2000 Jahren ein. Andrew Staples begeisterte mit seiner hellen, wunderbar klaren, perfekt gestützten und mit souveräner Sicherheit intonierenden Stimme. Grossartig war sein hervorragendes Piano, daneben konnte er aber auch organisch in einen bestimmten, energischen Tonfall wechseln. Im zweiten Teil, beim Repos de la Sainte Famille, kam man erneut in den Genuss der exemplarischen Phrasierungskunst und der vorbildlichen Diktion dieses aussergewöhnlichen Sängers. Mit Lebhaftigkeit begleitete er das Geschehen in Ägypten im dritten Teil, an dessen Ende er sich dann nach hinten links begab, sich quasi in den himmlisch klingenden Chor integrierte, im Mystère aufging.

Ja dieser Chor war natürlich ein Erlebnis der absoluten Spitzenklasse: Sir John hatte für diese beiden Aufführungen in Zürich den von ihm gegründeten Monteverdi Choir aus London mitgebracht. Packend und ergreifend gestaltete der Chor seine vielfältigen Aufgaben, stets mit einer Klangkultur allererster Güte: Als hinterhältige Einflüsterer (Wahrsager) von König Herodes offenbarten die Chorherren deren Brutalität, überirdisch schön liessen die Damen des Monteverdi Choirs die Stimmen der unsichtbaren Engel aus dem Off erklingen, voller Tröstlichkeit ertönte die Keimzelle des ganzen Werks mit dem gesamten Chor, das so unglaublich schöne Adieux des bergers, gemein und vehement gestalteten die Choristen die Abweisung der Heiligen Familie durch die Ägypter, mitfühlend und barmherzig dann aber klang der Chor der Ismaeliten und das Ende mit dem Ô mon âme und dem Amen war definitiv von der gebotenen entrückten Schönheit des Mysteriums des das Herz erfüllenden Glaubens beseelt. Absolut hochklassig besetzt waren auch die anderen solistischen Gesangspartien: Ann Hallenberg sang eine wunderbare Marie, mit warm strömender Mittellage und unforciert aufblühender, einnehmender Höhe, Ashley Richards als Joseph setzte seinen elegant und weich fliessenden Bariton mit feiner Gestaltungskraft ein und fand in der verzweifelt flehenden Bitte um Erbarmen bei den Ägyptern zu ergreifender Markanz.

Der herrliche Zusammenklang der beiden Stimmen von Ann Hallenberg und Ashley Richards gipfelte im Ils sont si doux/heureux – schlicht und traumhaft schön! William Thomas begeisterte mit seinem sonoren, wohlklingenden Bass als Hérode; das Wehklagen in Ô misère des rois erweckte beinahe ungewolltes Mitleid mit dem von Albträumen (Interminable nuit) gepeinigten Despoten. Grandios wie William Thomas bei Ô nuit profonde bruchlos von fein intonierter Höhe zum tiefen F hinunterstieg. Ganz besonders aufhorchen liess ein Mitglied des Chors: Der Bass Alex Ashworth sang sowohl die kleine Rolle des Polydorus, als auch die wichtige Rolle des Ismaeliten (Père de famille). Was für eine wunderbare Bassstimme, die mit ihrer klanglichen Schönheit restlos begeisterte. Der Tenor Gareth Treseder, ebenfalls Mitglied des Monteverdi Choirs, überzeugte in seinem kurzen Auftritt als Centurion.

Mitten im dritten Teil verliess Sir John das Dirigentenpodium und lenkte so die Aufmerksamkeit auf das Trio für Harfe und zwei Flöten, welches Berlioz quasi als Divertissement für die Heilige Familie im Haus des Ismaeliten eingefügt hatte. Die Harfenistin Sarah Verrue und die beiden Flötistinnen Sabine Poyé Morel und Haika Lübcke brachten diese himmlisch schöne Musik mit stupender Perfektion und voller Anmut zu ergreifender, ja zu Tränen rührender Wirkung.

Fazit: Ein berührendes Werk, wunderbar zur Adventszeit passend. Der fantastische Monteverdi Choir, das transparente und feinsinnige Spiel des Tonhalle-Orchesters Zürich, das differenziert und einfühlsam gestaltende Dirigat von Sir John Eliot Gardiner und die herausragenden Solisten machten den Abend zu einem ergreifenden Erlebnis. Heute um 17 Uhr wird es nochmals aufgeführt, lohnt sich unbedingt!

Kaspar Sannemann, 28.11.21

Applausbild vom Autor