St. Gallen: „Andrea Chenier“, Umberto Giordano

Ein perfekter Sommerabend: Eine von A-Z packende Aufführung mit herausragenden Sängern, einem differenziert spielenden Orchester, einem klangintensiven Chor und agilen Statisten vor der imposanten Kulisse der Barockfassade der Stiftskirche St. Gallen – Opernglück pur! Umberto Giordanos Meisterwerk begeisterte und bewegte das Publikum ebenso sehr wie den Kritiker, der diese Oper übrigens wahnsinnig liebt.

Im Zentrum der zur Zeit der französischen Revolution verorteten Handlung steht eine komplexe, schicksalshafte Dreiecksbeziehung: Der an die Ideale der Revolution glaubende Dichter Andrea Chénier, die Adlige Maddalena di Coigny und deren Bediensteter Carlo Gérard, der zum einflussreichen Sekretär der jakobinischen Schreckensherrschaft aufsteigt. Für diese drei Protagonisten hatte Giordano unglaublich starke Arien, Duette und Szenen komponiert, die, wenn sie von den Anforderungen entsprechende Interpreten gestaltet werden, ihre eindringliche Wirkung nie verfehlen. Die Festspiele St.Gallen konnten drei fantastische Sängerpersönlichkeiten für diesen Verismo-Thriller verpflichten, welche ihre Partien mit Bravour sangen.

An der Dernière gestern Abend stand wieder die Premierenbesetzung auf der Freilichtbühne im Klosterhof. Jorge Puerta sang einen überragenden Chénier. Sein Tenor strahlte kraftvoll, geschmeidig, ohne jegliche Registerbrüche – und er verfügte auch über ein überaus tragfähiges Piano, so zum Beispiel in der wunderbar einfühlsam gestalteten Arie im Final Akt Un bel dì di maggio, mit ihren trauerumflorten, zarten Phrasen. Pures Tenorglück verströmte er auch mit seiner crescendierenden Emphase und der stupenden Höhensicherheit in seiner Arie Un dì all‘ azzurro spazio und in den fantastischen, ja geradezu ekstatischen Duetten mit Maddalena. Für diese Rolle besaß Ewa Vesin die perfekte Stimme: Was für eine Kraft, was für ein Timbre – eine Idealbesetzung fürs veristische Repertoire. Von der aufmüpfigen, gerne provozierenden und etwas oberflächlichen jungen Dame im ersten Akt wandelte sie sich zur mutigen, dem Schicksal trotzenden jungen Frau. Ihre große Arie La mamma morta, in der sie ihren Kampf ums Überleben schildert, war von tief bewegender Innigkeit und unter die Haut gehenden Aufschwüngen ihrer fantastischen Sopranstimme geprägt, eine Stimme, die keine Grenzen zu kennen schien und trotzdem nie zu forcieren brauchte, einfach natürlich kraftvoll strömte – und von der Klangfarbe her leicht an eine ganz berühmte Vorgängerin erinnerte hinter der sich Frau Vesin aber nicht zu verstecken brauchte – im Gegenteil!

(c) Xiomara Bender

Der dritte Sänger in diesem Terzett war der Bariton Alexey Bogdanchikov, welcher als Carlo Gérard wohl die größte und spannendste Entwicklung aller Charaktere durchläuft. Von seiner ersten Szene an, die er mit dem Gänsehaut erregenden Ausruf È l’ora della morte abschloss, über die Kampfszene mit Chénier im zweiten und die manipulative Beeinflussung der wankelmütigen Menge, gipfelte seine Darstellungskunst in der intensiven Selbsterkenntnis im dritten Akt und dem Vergewaltigungsversuch an Maddalena. Bogdanchikov zeichnete ein bewegendes Porträt dieses vielschichtigen Charakters. Sein ebenmäßiger dramatischer Bariton verfügte über all die Farben und die Kraft, welche diese dankbare Rolle erfordern.

Doch nicht nur in den Hauptpartien erlebte man beeindruckende gesangliche Leistungen. Die mittleren und kleinen Partien sind für die Couleur dieses Dramas ausgesprochen wichtig, sie sind weit mehr als bloß Stichwortgeber für Cabaletten, wie noch in den Opern Donizettis oder des frühen und mittleren Verdi. Besonders erwähnt werden muss Malgorzata Walewska, welche im ersten Akt als Mutter Maddalenas (Contessa di Coigny) ein differenziertes Porträt dieser uneinsichtigen – allen gesellschaftlichen und politischen Veränderungen gegenüber blinden – Vertreterin des Adelsstandes zeichnete. Im dritten Akt gestaltete sie als alte Madelon den für mich führendsten Moment der Oper mit ganz besonderer Eindringlichkeit. Sie führt das letzte Mitglied ihrer Familie, ihren Enkel, den Jakobinern zu, die ihn als Kanonenfutter verwenden werden. Das Prendetelo rührte mich auch diesmal zu Tränen, ein veritabler Showstopper. Mack Wolz verlieh der fürsorglichen Freundin Maddalenas, Bersi, ihre farbenreiche Stimme. Mit der Partie des Roucher (Dichterfreund Chéniers und engster Vertrauter) verabschiedete sich Äneas Humm als festes Mitglied des Ensembles von St. Gallen. Noch einmal zeigte er seine großartigen Qualitäten: Eine frei schwingende und wunderschön timbrierte Baritonstimme, welche auf einem kerngesunden, soliden Fundament ruht und von dort aus in subtilen Schattierungen zu strömen vermag. Da dringt echte Besorgnis um Chénier, aber auch leichter, freundschaftlicher Spott durch (wenn er vermutet, dass eine der leichtlebigen Merveilleuses die Verfasserin der anonymen Briefe sei). Wunderbar. Kraftvoll interpretierte Kristján Jóhannesson den Fléville und den schweizerischen Mathieu, durchtrieben gestaltete Riccardo Botta den Incroyable (Spion) und sang auch den Abt. David Maze war sowohl der Haushofmeister bei den Coignys als auch der Kerkermeister, in beiden Rollen agierte er mit intensiver Bühnenpräsenz.

(c) Xiomara Bender

Die Inszenierung von Rodula Gaitanou gab den Akteuren, dem Chor und den Statisten viel Raum, den sie mit unterschiedlicher Darstellungskunst ausfüllten. Während Maddalena, Gérard und die Darsteller der Nebenrollen nicht nur stimmlich grosse Präsenz und Charakterisierungskunst zeigten, wirkte Chénier in seiner Körperlichkeit zwar imposant, aber leider etwas gar leidenschaftslos als sozial engagierter und der Revolution zugeneigter Künstler. Die Bühne war diesmal eher karg, einige Käfige, Rampen, eine Gallerie, ein nach hinten geneigter stilisierter Arc de Triomphe, der dann auch mittels einer imposanten Lichtröhre zur Guillotine wurde. Bühnenbild und Kostüme: takis. (Die Arbeiten von takis wurden verschiedentlich in Design-Museen ausgestellt.) Auffällig an den Kostümen des feiernden Adels waren die leicht an den Rändern angesengten Roben. Ein dezenter Hinweis auf den (in dieser Inszenierung zu Recht lächerlichen) Tanz auf dem Vulkan, den dieser Stand bis zum bitteren Ende ausführte. Spannend und beeindruckend war die Lichtgestaltung durch Jake Wiltshire, der selbstredend die Fassade der Kathedrale immer wieder miteinbezog, sie mal in fahlem, kaltem Weiss, dann knallrot oder in den Farben der Trikolore anstrahlen ließ. Ausgezeichnet gelang auch diesmal die Abmischung des Tons durch Marko Siegmeier und Nicolai Gütter. Dank der starken Stimmen der Sänger konnte man auch den Sound des Orchesters hochdrehen und so kamen die Zuschauer in den Genuss der hochklassigen, vielschichtigen Partitur Giordanos, welche Modestas Pitrenas mit herrlich herausgearbeiteten farblichen Abstufungen zum Erklingen brachte – wie stets in St. Gallen unterstützt von den musikafinen Mauerseglern, welche mit frohen Nachtgesängen die Türme der Kathedrale umschwirrten. Stimmig eben.

Kaspar Sannemann, 11. Juli 2023


Andrea Chénier

Umberto Giordano

St. Gallen, Festspiele

7. Juli 2023

Inszenierung von Rodula Gaitanou