Buchkritik: „Im Taumel der Zwanziger“, Tobias Bleek

Eine Pandemie gerade überstanden, kriegerische Handlungen in Europa und eine Inflation, so stellt sich das Jahr 2023 als nicht gerade glückliches dar. Verglichen aber mit 1923 geht es uns wahrlich noch gold, denn vor genau hundert Jahren rechnete man mit Millionen, Milliarden, zuletzt gar Billionen, wenn es um den täglichen Einkauf ging, gab es noch keinen Impfstoff gegen die sogenannte Spanische Grippe, und im Ruhrgebiet trieben einmarschierte französische Truppen ausgebliebene, weil allzu hohe Reparationszahlungen ein, gab es Scharmützel mit linken wie rechten Widerständlern, die Kommunisten vom „tapferen Soldaten der Konterrevolution“ Leo Schlageter sprechen ließen. Allerdings gab es Lichtblicke im Bereich der Musik. Der Verlag Bärenreiter, bis heute führend, was Editionen von Musikbüchern und Noten betrifft, wurde gegründet, Arnold Schönberg brachte nach längerem Verstummen neue Kompositionen zu Gehör, der öffentliche Rundfunk in Deutschland begann mit regelmäßigen Sendungen, zu denen schnell auch Opernübertragungen und sogar eigene Opernproduktionen desselben gehörten, und in den USA gewann die Musik der schwarzen Bevölkerung zunehmend an Bedeutung. 2023 hingegen müssen wir uns mit nicht ausverkauften Vorstellungen in Bayreuth und übel beleumundeten Bandleadern herumschlagen.

Von dem allen berichtet Tobias Bleeks Buch mit dem Titel Im Taumel der Zwanziger, 1923: Musik in einem Jahr der Extreme.

Es überlässt den Lesern zunächst einmal Überlegungen darüber, inwiefern die „Verhältnisse“ die Kunst und ihre Produzenten beeinflussen und andererseits diese etwas an den Verhältnissen ändern können. Da lässt die erklärte Absicht der Leute vom Rundfunk, den von Armut, Abstieg, ja Hunger bedrohten Menschen etwas Freude und damit Ablenkung zu bescheren, schmunzeln, war doch der Erwerb eines Rundfunkempfängers und die Bezahlung der allerdings wieder schnell herabgesetzten Gebühren schon einmal ein Hemmnis dabei, in den Genuss der Sendungen mit zunächst vorwiegend leichter Klassik zu kommen.

Das Buch gliedert sich in acht Kapitel, die nichts miteinander zu tun haben, nicht aufeinander aufbauen und die wiederum in viele Unterkapitel unterteilt sind. Eines davon widmet sich dem Phänomen Krise, drei den Teil-Biographien der Komponisten Igor Strawinsky, Bela Bartok und Arnold Schönberg, drei dem Siegeszug der Black Music und je eines dem Rundfunk und der Bedeutung des Liedes für den politischen Kampf.

Viele Zitate aus der Zeit, so Beiträge von Victor Klemperer und George Grosz, machen den Wert des ersten Kapitels aus, die anschauliche Schilderung der Folgen der Inflation, die Devisen besitzende Ausländer begünstigt und schließlich zu einer Art Naturalienhandel führt. Da soll mit Eiern bezahlt werden, was an 1945 denken lässt, als das Berliner Schlossparktheater mit Briketts oder Nägeln bezahlen ließ. Auslandsgastspiele sind oft die einzige Rettung, und anschaulich wird beschrieben, wie sich neben der Angst um das eigene die um das Überleben der deutschen Kunst breitmacht. Einen Kontrast dazu sind Bauten wie die Festhallen in Köln oder Hannover. Wichtig ist auch die Einsicht, dass gerade der kulturbeflissene Mittelstand nun von der Hochkultur ausgeschlossen wird  und dass Texte wie der vom versoffenen Häuschen der Oma und den unerreichbaren Bananen den Zeitgeist widerspiegeln.

Weniger als Jahr der Extreme erlebt man 1923 in Paris, wo Igor Strawinsky Erfolge feiert, eine Siegernation in  ganz anderen Verhältnissen lebt als das besiegte, gedemütigte und mit unerträglichen Lasten bestrafte Deutschland. So ist auch dieses Kapitel interessant, aber nicht im Sinne des Untertitels.

Näher darf sich da schon das vieler Ländereien beraubte Ungarn als ehemaliger Teil des ebenso besiegten Österreich- Ungarn fühlen, und Bela Bartok, der nacheinander Liberalismus, Räterepublik und faschistisches Horthy-Regime erlebt, muss mit den Kollegen Kodaly und Dohnanyi lavieren, um weder wegen seiner Benutzung der Musik auch anderer Kulturen als antinational noch als das Gegenteil beschimpft zu werden.

Ein Programmzettel der Berliner Philharmoniker liefert den Beweis dafür, dass Nationalismus eine Blüte erfährt, wenn er gekränkt wird, denn flugs wurde Tschaikowski durch Beethoven ersetzt, als französische Truppen ins rechtsrheinische Gebiet einmarschierten. Interessant sind die Interpretation des Liedes der Deutschen, die Einschätzung der Wacht am Rhein und anderer patriotischer Lieder. Hier kann man zu Einsichten wie der kommen, dass man ein Kunstwerk nur richtig einschätzen kann, wenn man die Umstände seiner Entstehung in Betracht zieht. In Bezug auf die Hymne gilt die Entwicklung vom liberalen zum nationalistischen Kampfgesang. Interessant ist im Zusammenhang mit der „Ruhrspende“, dem Konzert der Essener, Bochumer und Dortmunder in Berlin, auch die Teilnahmeder Juden Schreker und Liebermann am Ehrenausschuss.

Als „Lügengekröse“ bezeichnete der erboste Schönberg die Nachricht, er wolle nach längerem Schweigen nun „gemäßigtere Musik“ komponieren und hoffte zugleich, er könne dazu beitragen, die Hegemonie der deutschen Musik, an deren Überlegenheit er glaubte,  zu erhalten. Die Nachgeborenen sollte es besonders beschämen, wie den Juden, die wohl auch besonders eifrig 1914 zu den Waffen geeilt waren, dieses später vergolten wurde. Dieses Kapitel ist wahrscheinlich das den Lesern am stärksten bewegende. Eher zum Schmunzeln bringt die Darstellung des Streits zwischen Schönberg und Josef Matthias Hauer um die „Erfindung“ der Zwölftonmusik. Wenn ihn Hanns Eisler einen „konservativen Revolutionär“ und Berg ihn den „Klassiker unserer Zeit“ nennt, dann dürfte das Streitthema abgehakt sein.

In Black music matters und New Orleans in Chicago geht es um den Siegeszug der schwarzen Musik in den USA und danach auch in Europa, in Deutschland allerdings aus bekannten Gründen jäh unterbrochen. Diese Kapitel wirken etwas wie Fremdkörper, da ansonsten für die USA 1923 nicht ein „Jahr der Extreme“ wie für Deutschland war.  

Dorthin zurück kehrt das letzte Kapitel, das dem Rundfunk gewidmet ist, der rasanten Zunahme von Hörern und Sendezeit, nachdem am 29. Oktober der öffentliche Rundfunk zu senden begonnen hatte. Beinahe nachtrauern kann man einer Zeit, in der, zunächst mit kleinem Orchester, extra für den Funk produziert wurde, es Opern-Sendespiele gab, immerhin in anderthalb Jahren 50 an der Zahl, Kurt Weill „mit neuen Mitteln neue Taten vollbringen“ will. Schönberg selbst dirigierte „Von heute auf morgen“, Weill schrieb für den Rundfunk das Berlin-Requiem, Hindemith Der Lindbergh-Flug. Dieses letzte, überaus reichhaltige Kapitel könnte zu einem umfangreichen Buch erweitert werden.

Sein Wissen vertiefen kann der Leser mit dem reichen Anhang, bestehend aus Anmerkungen, Literatur- und Quellenverzeichnis, Register und Abbildungsverzeichnis.

Ingrid Wanja, 19. Juli 2023


Tobias Bleek: Im Taumel der Zwanziger – 1923: Musik in einem Jahr der Extreme

316 Seiten

2023 Bärenreiter und Metzler

ISBN 978 3 7618 7245 1