Phänomenal. Das Wort mag einem einigermaßen feinfühligen Hörer einfallen, wenn er schon das Preludio zu Verdis Macbeth hört – zumindest dann, wenn es vom Frankfurter Opern- und Museumsorchester unter seinem GMD Thomas Guggeis gespielt wird.
Phänomenal, das ist ein großes Wort. Begreift man es allerdings von seiner ursprünglichen Bedeutung her – „phainómenon“ heißt „ein sich Zeigendes, ein Erscheinendes“ –, so wird klar, was gemeint ist: Das Orchester enthüllt Züge in Verdis Partitur, die man so selbst dann nicht in Erinnerung hatte, wenn man den Macbeth zu kennen meinte, was mich an Marcel Prawys Wort erinnert: „Sie kennen, sagen Sie, den Rigoletto. Aber wissen Sie genau, was die Flöte in ‚La donna è mobile‘ macht?“ Nein, da muss man, wenn man ehrlich ist, nachschauen.
Also der Macbeth in der brandneuen Inszenierung der Frankfurter Oper – und einer musikalischen Vergegenwärtigung, die sich gewaschen hat. Obwohl viele einzelne Details dieses zum Meisterstück gemachten mittleren Werks erst in der späteren Pariser Überarbeitung entstanden, verblüfft es durchaus, mit welchem Reichtum an Farben, feinsten Nuancen, schillernden Valeurs und in die Zukunft weisenden Partien der Komponist schon seine erste Partitur versehen hat. Mit anderen Worten: Es macht an diesem Abend schon ungeheure Freude, allein dem Sound der letzten, um das Ballett gekürzten Version des Macbeth zu lauschen. Die tiefschwarze tinta glüht so intensiv wie die funkelnden Spritzer, mit denen der junge Komponist seine Fest- und Hexenszenen gekrönt hat – Szenen, die, so hat das der Dramaturg Konrad Kuhn gesagt, eher an Offenbach denn an Gruselgestalten einer schwarzen Romantik erinnern, daher auch nicht als „Hexen-Szenen“ inszeniert wurden (woanders sieht man Sekretärinnen, hier das Hauspersonal und die weiblichen Gäste). Schwer zu sagen, wer zuerst zu loben wäre: das machtvolle Blech, die sensitiven Streicher, insbesondere die Violoncelli und Bratschen, die stets dynamisch eingepegelten und doch individuell bleibenden Holzbläser? Guggeis rauscht, nach einem ruhigen Vorspiel, mit einem Tempo durch den Abend, dessen Vehemenz zwar gewaltig, doch nicht überhetzt, also für’s Drama schon deshalb völlig logisch wirkt, weil die einzelnen Akzente, wenn man so will: die kleinen Noten, stets die Handlung, also die Psyche der Protagonisten untermauern, begleiten, erläutern. Der bisweilen bohrende wie mitreißende Grundrhythmus treibt einen Macbeth vorwärts, in dem das Schöne, wie der Walzer der Enthüllungsszene nach der Ermordung des Königs, gerade deshalb zu wirken vermag, weil es in die Totalität einer Oper eingesponnen ist, in dem es kein Ornament und keine überflüssige Note mehr gibt (nebenbei: dies verbindet den Macbeth mit den späteren Meisterwerken). Nur Macduffs Arie „Ah, la paterna mano“ wirkt als lyrischer Ruhepunkt wie ein Überhang aus einer älteren Tradition, doch hat der Sänger, in diesem Fall Matteo Lippi, hier die Gelegenheit, solistisch zu glänzen, und er tut es: mit Ausdruck. Ein Extralob für den Chor; nicht allein „Patria opressa!“ wirkt mit seinem schwingenden piano so stark, dass der heftige Applaus, der nach dem vierten Akt auf die Musiker niederprasselt, auch den hervorragenden Chor miteinschließt.
Bietet das Orchester die erstrangige Basis für den Abend, so wurden mit Nicholas Brownlee und Tamara Wilson zwei Interpreten für die Titelrolle(n) engagiert, die der differenzierten Wucht und dem Klangreichtum der Instrumentalisten Ebenbürtiges entgegensetzen. Brownlee leidet sozusagen nicht unter des Gedankens Blässe, auch wenn er sich in seinem Wahn verzehrt, von numinosen Mächten bedrängt zu werden. Stimmlich potent, entäußert sich die Seele des Verbrechers doch nicht in Kraftprotzerei. Nicht, dass man diesen Kerl liebgewinnen könnte – doch vermag Brownlee dem Macbeth kraft seiner die verschiedensten Angst- und Traumzustände ausdeutenden Stimme ein Profil zu geben, das dem, was Verdi wollte, angemessen ist: die Darstellung eines nihilistischen Charakters. Ebenso die Lady. Tamara Wilson stehen alle Mittel zwischen hell leuchtendster Ektase und tiefster Verstörung zu Gebote, ohne dass sie je expressionistisch übertreiben und sich zu vokalen Kraftmeiereien versteigen müsste (und spielen können sie beide, gottseidank). Kein Wunder also, dass auch sie die Zuneigung des Publikums zu spüren bekommt; dass zwischen den einzelnen Nummern kaum oder gar kein Applaus aufflammt, liegt m. M. nach an der Dauerspannung, die über dem musikalischen, meist auch über dem szenischen Teil des Abends liegt. Man weiß eben, dass man nicht in jede Generalpause hinein klatschen muss.
Macbeth und die Lady und der Chor, das sind die vokalen Schwergewichte des Abends, auch wenn der Banquo des Kihwan Sim charakteristisch leidend für den stimmlichen Ausgleich auf der Seite der „Guten“ sorgt. Alle anderen Rollen in dieser mit wenigen, aber genügend Hauptpartien ausgestatteten Oper sind klein und angemessen besetzt: Kudaibergen Abildin singt den Malcolm, Karolina Bengtsson die Kammerfrau, Erik van Heyningen den Arzt, Aslan Diasamidze den König Duncan, Pilgoo Kang einen Diener Mörder Herold, der Chorknabe Juval Langheim-Halaf, sehr ansprechend, den Fleance, zugleich die „1. Erscheinung“ – und drei junge Frauen drei junge Tänzerinnen aus einer Show-Truppe. Emma Ibáñez, Federica Faini und Madeline Ferricks-Rosevar dürfen als rotglitzernde Weihnachts-Bunnies im Hause Macbeth die Beine und die Zuckerstangen schwingen und geglückt improvisieren, wenn das Fest außer Kontrolle gerät, weil der Hausherr sich einbildet, Gespenster zu sehen, wo doch nur der Sohn eines der unglücklicherweise verschwundenen Hausangestellten durch den Raum geht. Später wird eben dieser Sohn die Position eines jener toten Könige einnehmen, die als Visionen durch Macbeths Hirn ziehen – und die Lady selbst wird in ihrem von Doey Lüthi prägnant erfundenen Weihnachts-Look zur „2. Erscheinung“, geleitet von einer langbeinig-attraktiven jungen kleidergoldenen Frau, als wäre sie, die Lady, ihr willenloses Werkzeug.
Dies immerhin ist eine originelle Deutung der fantastischen Szene, die einem Publikum erklärt werden muss, das nicht mehr, wie das Publikum der „Shakespeare“-Zeit, an Geister glaubt oder sich nicht mehr so leicht beeindrucken lässt wie die romantisch gesinnten Besucher eines italienischen Opernhauses im Jahre 1847. So, wie die „Hexen“ keine dämonischen Gestalten, sondern eine lustige Frauenrunde sind, so, sagt der Regisseur R. B. Schlather, handelt es sich bei Macbeth’ Visionen um eine „mysteriöse Einbildung“. Die Idee ist nicht neu, das muss sie auch nicht sein, hier figurieren die „Hexen“ als fröhliche Halloween-Gesellschaft, doch wie bringt man die „Erscheinungen“ in eine szenische Präsenz, die der Musik ein starkes Bild gegenüberstellt? Die Sache ist schwierig… denn das Auftreten des Sohns des getöteten Vaters (Banquo) und der „2. Erscheinung“ in Form der Lady, auch des toten Vaters selbst, hinterlässt unlösbare, zumindest nur rein spekulativ beantwortbare Fragen, wenn Inneres (Macbeth’ Wahnbilder) und Äußeres (die Bühnenauftritte) in eins zusammenfallen. Macht nichts: Über die Logik „mysteriöser Einbildungen“ muss man schon deshalb nicht rechten, weil die Bühne – und gerade die des „Macbeth“ – eh immer und ausschließlich Irrealitäten zeigt, mag sie auch noch so „wirklichkeitsnah“ daherkommen. Schon der immer wieder durch die Drehbühne bewegte Mehrzimmer-Raum, eine großzügig leere und spartanisch möblierte Wohnung, wie sie im Frankfurter Bankenviertel denkbar ist, ist ja eher Spiel- als Wohnraum. Halloween, Weihnachten, Ostern: das sind die drei Spiel-Zeiten, in denen quasi Religiöses durchschimmert, und die die Folie für die drei Akte mit ihren Schwerpunkten bilden, auch wenn „Ostern“ eher als Idee eines auch politischen Auferstehungs-Fests denn als szenische Realität Gestalt gewinnt. Wichtiger ist eh die Kraft, mit der Tamara Wilson die Schlafwandel-Szene gestaltet, mit der sich die beiden ehelich und bös Verbündeten buchstäblich aufeinander werfen, mit der sie durch die fast leeren Räume irren, in den Schatten gleiten und das Gespenstische deutlich in ihren Seelen nistet – das Gespenstische, definiert als eine parasitäre Gier nach Macht, die über Leichen geht, um schließlich die Widersprüche, auch die Widersprüche, die von außen kommen (der Aufstand, die Revolte), gewaltsam wie farcenhaft aufbrechen zu lassen. Es steht zu befürchten, dass auch die Befreiung vom Herrenvolk keine wirkliche Erlösung bringen wird. Dafür hat Verdi einfach, das war so der Ton von 1847/48, sein Finale zu martialisch angelegt; der Chor macht das, natürlich, auch ganz hinreißend. Und der angedeutete Streit zwischen dem neuen König und seinem Feldherren, der die Drecksarbeit des Macbeth-Mords, eine brutale Erstickung, auf sich genommen hat, lässt schon weiteres Unheil ahnen. Die Ausschnitte aus Walt Disneys Skeleton Dance, einem Klassiker des Animationsfilms von 1929, die neben Ausschnitten eines Krazy-Kat-Streifens und fürchterlicher Erinnerungen an die zerstörerische Gegenwart über den Bildschirm laufen, sind wesentlich lustiger als die Aussichten, die der Sieg über das machthungrige Paar befürchten lässt. Im ausgezeichneten Programmheft wird nicht grundlos auf Typen wie Mark Zuckerberg und Donald Trump hingewiesen, auch wenn man bezweifeln mag, dass sie jemals das schlechte Gewissen überfallen wird, die eine superreiche und gleichzeitig total arme Lady Macbeth zu einer integralen Figur macht.
Im Übrigen hat Olaf Winter auch die sog. Nebenfiguren in ein schönes Dunkel eingepackt; die Kammerfrau, die wenig zu singen und viel dazusein hat, ist das beste Beispiel für die betörende Technik, diese kleine, aber denn doch wesentliche Rolle ins rechte Licht zu tauchen – so, wie es das Orchester ohne Pausen versteht, aus der Verdischen Partitur alle nur möglichen Farben und Dunkelheiten, alle Brillanz und alle tiefpointierte Charakterkunst herauszuspielen. Wie gesagt: ein phänomenaler, ungemein spannender Abend.
Frank Piontek, 9. Dezember 2024
Macbeth
Giuseppe Verdi
Oper Frankfurt
Besuchte Vorstellung: 7. Dezember 2024
Premiere am 1. Dezember 2024
Inszenierung: R.B. Schlather
Musikalische Leitung: Thomas Guggeis
Frankfurter Opern-und Museumsorchester