Auch in diesem Jahr haben wir unsere Kritiker wieder gebeten, eine persönliche Bilanz zur zurückliegenden Saison zu ziehen. Wieder gilt: Ein „Opernhaus des Jahres“ können wir nicht küren. Unsere Kritiker kommen zwar viel herum. Aber den Anspruch, einen repräsentativen Überblick über die Musiktheater im deutschsprachigen Raum zu haben, wird keine Einzelperson erheben können. Die meisten unserer Kritiker haben regionale Schwerpunkte, innerhalb derer sie sich oft sämtliche Produktionen eines Opernhauses ansehen. Daher sind sie in der Lage, eine seriöse, aber natürlich höchst subjektive Saisonbilanz für eine Region oder ein bestimmtes Haus zu ziehen.
Nach der Staatsoper Stuttgart blicken wir heute auf das Theater Lübeck.

Beste Produktion:
Die Passagierin von Mieczysław Weinberg in der Inszenierung von Bernd Reiner Krieger. Inhaltlich als Auschwitz-Oper das Stück zur richtigen Zeit, von der Umsetzung her in jeder Hinsicht absolut überzeugend!
Größte Enttäuschung:
Schön, daß diese Sparte leer bleibt!
Entdeckung des Jahres:
Der Zaubertrank von Frank Martin als Begleitproduktion zum Tristan. Musikalisch eine Entdeckung und als Produktion uneingeschränkt gelungen.
Beste Wiederaufnahme:
Humperdincks Hänsel und Gretel. Die Wiederaufnahme einer Wiederaufnahme einer Wiederaufnahme…aber immer wieder zum Weinen schön, gerade auch für die älteren Semester mit seligen Kindheitserinnerungen.
Beste Gesangsleistung:
- Damen: Lena Kutzner (Gast) als Isolde. Bayreuth sollte sich bald bei ihr melden!
- Herren: Konstantinos Klironomos als José; das beängstigende Psychogramm eines Frauenmörders.
Beste Gesangsleistung Nebenrolle:
- Damen: Marlene Lichtenberg als Brangäne. Mehr standhafte Freundin als nur vertraute Dienerin.
- Herren: Jacob Scharfman als Enrico in Donizettis Lucia di Lammermoor. Nobler kann man Bosheit nicht darbringen. Und Steffen Kubach als Kurwenal in Tristan und Isolde. Weitab seiner bisherigen Reduktion auf komische Rollen, ergreifend in Mitgefühl und Stärke.
Nachwuchssängerin des Jahres:
Sophie Naubert als Semele in Händels gleichnamiger Oper. Spielerisch hinreißend und sängerisch mitunter atemberaubend. In der nächsten Spielzeit fest im Ensemble!
Bestes Dirigat:
Das bewährte Duo aus GMD Stefan Vladar und dem Ersten Kapellmeister Takahiro Nagasaki. Vladar glänzt erneut durch Tempo und Hingabe (überwältigend vor allem im Tristan!), Nagasaki durch Vielseitigkeit und ironische Brechungen.
Beste Regie:
Anna Dreschers Lucia di Lammermoor-Regie. In der Interpretation des Stücks und der Personenregie ungemein beeindruckend.
Bestes Bühnenbild:
Die Vertikalbühne von Hans Kudlich in Die Passagierin. Oben Luxusliner, unten Auschwitz. Ergreifend!
Beste Chorleistung:
Chor und Extrachor des Theaters Lübeck unter Jan-Michael Krüger in Lucia di Lammermoor. Kraftvolle Synchronizität, Präzision und beängstigende Darstellung der machtvollen Masse.
Größtes Ärgernis:
Erneut eine geringe Besucherzahl nach den gutbesuchten Premieren. Das Theater Lübeck als erstklassiges Haus verdient entsprechende Wahrnehmung!
Die Bilanz zogen Regina und Andreas Ströbl.