Frankfurt: „Der ferne Klang“, Franz Schreker (zweite Besprechung)

Eine behutsame, kluge Inszenierung voller Poesie hat das Inszenierungsteam rund um Starregisseur Damiano Michieletto für Schrekers spätromantische Autorenoper – Text und Musik stammen wie bei Wagners Musikdramen aus der Hand des Autors – geschaffen. Den Ansatz für ihre Konzeption fanden der Regisseur, der Bühenbildner Paolo Fantin, der Kostümdesigner Klaus Bruns und die Videokünstler Roland Horvath und Carmen Zimmermann (Rocafilm) wohl im 1979 erschienen Roman gleichen Namens des österreichischen Autors Gert Jonke. Ein kurzer Auszug aus dem Roman ist im überaus sorgfältig, informativ und umfassend ausgestalteten Programmheft der Oper Frankfurt nachzulesen. Darin kommen in Jonkes einzigartig schöpferischer Sprachgewalt Passagen vor wie diese libellenflügelgeschuppten, passatdurchflossenen Landschaftsklanghautschleier senken sich um dich herunter, diese Schleierlichtakkorde, du kannst dir sicher sein, dass dein ganzes Innenlebensgefühl aus dem Vorstadthimmel auf dich herunterrieselt als feiner Klangstaubkörnerhaufen.

(c) Barbara Aumüller

In Jonkes Roman erwacht ein Musiker in einer Anstalt, in Michielettos Inszenierung begegnen wir auf der Bühne immer wieder alten Menschen, nicht Alter Egos von Grete und Fritz, sondern alten Egos. Der im Kranken- oder Irrenhausbett liegende Fritz wird manchmal in Projektionen gezeigt, manchmal ist er konkret auf der Bühne, die Partitur seiner Oper „Die Harfe“ liegt auf dem Nachttisch, noch immer ist er auf der Suche nach dem „fernen Klang“, hat Visionen,  verschwommene Reminiszenzen an sein Leben. Die alte Grete nimmt regen Anteil am Schicksal der jungen Grete, tröstet sie, streichelt sie. Ein poetisches Changieren zwischen erzählender Realitätsebene und imaginierter Vergangenheit. Dazu hat Paolo Fantin das Bild der „Landschaftsklanghautschleier“ in ein faszinierendes, viele seelische und szenische Zustände ent- und verhüllendes bildnerischen Konzept geformt. Vertikale reale Schleier und horizontale projizierte und leise flatternde Schleier, die tatsächlich an Libellenflügel erinnern. Großartig!

Mit projizierten Texten zu den vier Jahreszeiten wird eine Lebensparallele für jedes Bild zum realen Leben geschaffen. Die junge, erst unbeschwerte Liebe im Frühling, die umtriebige Suche nach dem Sinn des Lebens im Sommer, die Resignation im Herbst und das unausweichlich tragische Ende im Winter; ein Leben der verpassten Chancen, bloß weil Fritz einem Ideal nachjagte, das er nie fand, weil es die ganze Zeit genau da vor seiner Nase gelegen hatte, er es aber in seiner künstlerischen Eitelkeit nicht hatte erkennen wollen – das Glück der Liebe.

Schrekers 1912 in Frankfurt uraufgeführte Oper war ein durchschlagender Erfolg gewesen, die gestrige letzte Vorstellung der Produktion aus dem Jahr 2019 war es ebenfalls. Die Aufführung begann mit einer Verspätung von 20 Minuten, da der Andrang an der Abendkasse so immens gewesen war und man natürlich diese Kartenkäufer nicht bis zur Pause vor der Tür warten lassen wollte. Frankfurt, Opernhaus des Jahres 2022, und das gesamte Ensemble haben diesen rauschenden Erfolg verdient – und natürlich auch der Komponist, der zwar unterdessen wieder vermehrt ins Blickfeld des Operninteresses gerückt zu sein scheint, aber noch immer nicht ganz den Platz einnimmt, den er verdiente.

(c) Barbara Aumüller

Die Oper Frankfurt vermochte die vielen Rollen, welche das grandiose Werk erfordert, praktisch vollständig aus dem eigenen Ensemble zu besetzen. Chapeau!

Jennifer Holloway ersang sich mit der anspruchsvollen und anforderungsreichen Rolle der Grete einen riesigen Triumph. Sie war erst das junge, verliebte (und für die Marotten Fritzens viel zu verständnisvolle) Mädchen aus einem niedrigen Arme-Leute-Milieu, dann Edelkurtisane in Venedig, danach folgte der Abstieg zur Straßendirne zurück in ihrer Heimatstadt. Am Ende sieht man sie als alte Frau im Altenheim (großes Kompliment auch an die Maskenabteilung!). Frau Holloway beeindruckte mit aufblühender, wunderschön kontrollierter Tongebung, bestechender Textsicherheit und Artikulation und weitem Volumen, das nie forciert wurde, sondern mit herausragender Stütze ganz organisch aus der Kehle floss. Fantastisch. Gerade auch in der wichtigen (mit Hilfe von Wasseroberflächen- und Wellenprojektionen so stimmig impressionistisch inszenierten) Szene am Teich bewegte sie mit der unter die Haut gehenden Intensität ihres Gesangs. Ian Koziara als Fritz war ihr ein ebenbürtiger Partner, der die ebenfalls Tücken reiche Tenorpartie hervorragend und blitzsauber intonierend meisterte. Seine Stimme blühte auch im Herbst und im Winter von Fritzens Leben nochmals hoffnungsvoll und energiegeladen auf, das war schon ganz große Klasse. Aus der Vielzahl von Rollen und Interpreten seien speziell erwähnt: Thomas Faulkner als mit warmer Bassstimme aufwartender Dr. Vigelius, Anthony Robin Schneider als stimmlich souveräner übergriffiger Wirt, Clarry Bartha als mystisch-böse Zuhälterin (Altes Weib, wird die Rolle von Schrekers genannt), Danylo Matviienko als besorgter, mit wundervoll baritonalem Wohlklang aufwartender Freund Rudolf (hier Arzt und Psychiater), Liviu Holender, der die traurige Ballade des Grafen im zweiten Akt so ergreifend gestaltete, Brian Michael Moore mit seinem herrlich vorgetragenen Schlager über „die Blumenmädchen von Sorrent“, Magnús Baldvinsson als alkohol- und spielsüchtiger Vater Gretes und Juanita Lascarro als mit starker Bühnenpräsenz agierende Mutter

(c) Barbara Aumüller

Der Dirigent Florian Ertl blieb – zusammen mit dem Chor der Oper Frankfurt und dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester – der reichhaltigen Musiksprache Schrekers nichts an spätromantischer Aufwallung, differenzierter Klangsinnlichkeit und spannungsreichem, zwischen Impressionismus und neuer Sachlichkeit changierendem Eindruck schuldig. Wenn am Ende der sterbende Fritz in den Armen Gretes endlich den fernen Klang als den Klang von Gretes Liebe entdeckt, die Geigen des Himmels (und alle anderen Instrumente des Orchesters) vom Bühnenhimmel schweben, die fallenden weißen Schleier schwarze Bühnenwände freigeben, dann schleicht sich doch die eine oder andere Träne aus dem Auge.

Der Applaus steigerte sich am Ende langanhaltend.

Kaspar Sannemann, 2. März 2023


Der ferne Klang
Franz Schreker

Oper Frankfurt

Besuchte Derniere: 24. Februar 2023
Premiere: 31. März 2019

Regie: Damiano Michieletto
Dirigat: Florian Ertl
Frankfurter Opern- und Museumsorchester