Hagen: „Lucia di Lammermoor“

Brauchbares Opernglück im kleinen Stadttheater

Immer wieder hört man, und gerade bei kleineren Häusern, dass die potentiellen Opernbesucher bei Neuinszenierungen vor dem Kartenkauf erst einmal die Kritiken abwarten. Das scheint bei der Hagener „Lucia di Lammermoor“ nicht recht geklappt zu haben; bei der zweiten Aufführung und immerhin 6 Tage nach der Premiere war das Haus nicht einmal halb voll. Das ist sehr enttäuschend, zumal die Lokalpresse mit „Belcanto-Wahnsinn“ und Hinweis auf das „Sängerwunder Cristina Piccardi“ die Produktion in den höchsten Tönen gelobt hatte. Was soll das personell und finanziell krisengeschüttelte Haus denn noch alles anstellen, um „die Bude voll zu bekommen“ ? Zumal diese Oper unbestritten einen einsamen Höhepunkt des Belcanto darstellt, eines Genres, wo die Schönheit des Gesangs im Vordergrund steht, mit prächtigen Arien oder Ensembles. Das Erlebnis dieser Musik greift aber auch, wenn die Qualität einer Aufführung nicht im obersten Bereich anzusiedeln ist; Hagen ist nicht München oder Wien, aber ein sehr achtbares Stadttheater, welches mit der Lucia eine sehr ordentliche Oper auf die Bretter gebracht hat.

Die Brasilianerin Cristina Piccardi in der Titelfigur füllt diese Rolle, an der sich seit Generationen die Sängerinnen, Dirigenten und Regisseure die Zähne ausbeißen, mit einer rundum bewundernswerten Stimme und Darstellungskraft. Sie singt sehr höhensicher, mit gestochenen Koloraturen und Spitzentönen, von denen sie – eine häufige Unsitte – keinen einzigen ausgelassen hat. Bewundernswert auch ihr Duett mit der Glasharfe (Sascha Reckert); das ging in der Empathie schon in Richtung Rückenschauer. Wenngleich ihrem hellen Sopran ein wenig mehr Wärme und Erotik gut tun würde; es fehlen ein wenig die Untertöne. Andrew Finden als Enrico erfreut mit wunderbar strömendem, warm timbriertem Bariton, mit einem sehr schönem Parlando und mit rollengerechter perfekten Bühnenpräsenz.

Sein Kontrahent Edgardo (der Chinese Kejia Xiong), seit einigen Jahren festes Ensemblemitglied, stieß an diesem Abend in diese Rolle deutlich an seine Grenzen. Die Stimme klang unfrei, eher hinten im Hals, sie war nicht optimal in der Resonanz; seine große Arie im letzten Akt geriet zur Zitterpartie, sie war nur mit großer Kraftanstrengung durchzustehen. Auch Rainer Zaun als Erzieher Raimondo fehlte an diesem Abend ein wenig vom gewohnten Bassfundament. Peter Aisher als Bucklaw und die Vertraute Kristine Larissa Funkhauser sangen und spielten einwandfrei, ebenso Matthew Overmeyer als Normanno.

Szenisch gibt es über den Abend nichts Aufregendes zu berichten, Regisseur Thomas Weber-Schallauer erzählt die Geschichte relativ belanglos entlang dem Libretto und in etwas langweiligen, von verschiebbaren Säulen eingerahmten grauen Bühnenbild (Jan Bammes), welches durch wechselnde Beleuchtung und ein paar Möbelstücke modifiziert werden kann. Auch die Personenführung könnte mehr Aktivität vertragen, man stand in Alltags-Kostümen von Christiane Lutz oft einfallslos herum, so auch im herrlichen Sextett Ende 1. Akt, oder sang bequem im Sitzen. Ob der mehr als deutliche Griff Edgardos mit einem kleinen Kreuz in der Hand unter den Rock der Lucia als Anspielung auf einen derzeit sehr bekannten Politiker gedeutet werden kann, bleibt unklar. Ebenso der Mord an Edgardo durch Normanno; im Libretto ist eigentlich ein Selbstmord vorgesehen.

Mihhail Gerts, 1. Kapellmeister des Hauses, hatte eingangs einige Mühe, das Orchester zusammenzuhalten und mit der Bühne zu synchronisieren; das gab sich im zweiten Teil deutlich besser. Auch der Chor (Wolfgang Müller-Salow) geriet erst spät so richtig in Fahrt. Das Publikum war nach dem langen stehenden Applaus auf jeden Fall mehr als zufrieden. Zumal diese Musik viel zu schön ist, um sich über irgendwelche Kleinigkeiten zu ärgern und dann verdrossen nach Hause zu gehen.

Michael Cramer 28.1.17

Fotos © Andrew Finden