Besuchte Vorstellung: Premiere am 19. September 2021
Auf den Tag genau vor einem Jahr feierte das Theater Lübeck mit dem Gala-Abend „Unter die Haut“ so etwas wie den unerschütterlichen Glauben an die Lebendigkeit des Musiktheaters, wenn man nur die Hoffnung auf gemeinsame Überwindung einer echten Krise nicht aufgibt. Voraussetzung ist ein entsprechend kluges Hygiene-Konzept und ein bei allen Einschränkungen reduziert, aber regelmäßig verabreichtes, gegen die Corona-Depression wirksames Psychopharmakon, das Musik heißt. Allmählich dürfen manche Regeln gelockert werden und so gibt es auch wieder deutlich mehr Sitzplätze im Lübecker Jugendstil-Theater, das etwas voller hätte sein dürfen an diesem hoffnungsvollen Abend. Den moderierte der stellvertretende Operndirektor Bernd Reiner Krieger; mit der deutsch-russischen Kombination – einerseits von Beethoven über Wagner bis zu Strauss, andererseits mit Stücken von Tschaikowsky, Borodin und Rachmaninow – konnte man musikalisch nichts falsch machen.
Man hat von Theaterseite viel verschieben oder gar absagen müssen und hofft als Zuschauer, daß Produktionen, auf die man sich so sehr gefreut hat, im nächsten Jahr doch noch auf die Lübecker Bretter gebracht werden. Noch liegt das im Dunkeln und so begann auch der Gala-Abend tatsächlich mit dunkler Bühne. Als hätte GMD Stefan Vladar mit dem Verzicht auf den Begrüßungsapplaus ein Zeichen setzen wollen, daß es hier, um mal wieder mit Wagner zu sprechen, der Kunst gilt, schritt er bei schwachem Dämmerlicht ans Dirigentenpult. Aus der Dunkelheit ersteht der Morgen und den gab es mit dem wunderbaren 4. Lied aus den Orchesterliedern Op. 27 von Richard Strauss, gesungen von Gastsopranistin Bea Robein.
Zu den hoffentlich bald realisierten Produktionen gehört Wagners „Lohengrin“; die Gralserzählung sang sehr einfühlsam ebenfalls ein Gast, der Tenor Bernhard Berchtold.
Außer dem Haus-Baß Rúni Brattaberg und dem Tenor Noah Schaul traten im Quartett „Mir ist so wunderbar“ aus dem ersten Akt von Beethovens „Fidelio“ Bea Robein und die Sopranistin Conelia Ptassek als Gäste auf – ein starkes, gut aufeinander abgestimmtes Miteinander. Überhaupt waren die Lautstärken-Proportionen von Solisten und Orchester am ganzen Abend harmonisch ausgewogen. Vladar hatte das – endlich mal wieder große – Orchester mit seinem sehr zu begrüßenden Hang zur Schmissigkeit sowohl bewährt im Griff, wenn es galt, reduktiv hinter den Solisten etwas zurückzutreten, als auch überzeugend in die Offensive zu gehen.
Wiederum ein Gast war Marlene Lichtenberg mit ihrer leidenschaftlichen Interpretation der Arie der Johanna aus Tschaikowskys „Jungfrau von Orleans“, unbedingt einer der stärksten Auftritte der Soirée.
Sehr stark waren auch die „Polowetzer Tänze“ aus Borodins „Fürst Igor“, bei denen zum ersten Mal seit 18 Monaten der Chor des Theaters Lübeck auftreten durfte. „Endlich fortissimo!“ hätte man mit Gustav Mahler ausrufen wollen, als der nach füllendem Klang dürstende große Saal wieder einmal die musikalische Labung bekam, für die er überhaupt existiert. Damen- und Herrenchor sangen exakt und ausnehmend kraftvoll, das Orchester strahlte.
Szene und Arie der Marschallin und das Schlußterzett aus Strauss´ “Rosenkavalier“ beschlossen den ersten Teil, dargeboten wiederum von Cornelia Ptassek, Marlene Lichtenberg und der jungen Sopranistin Nataliya Bogdanova. Cornelia Ptasseks Marschallin glänzte in den Höhen, schwand etwas in den Tiefen; Marlene Lichtenbergs Octavian bestach nicht zuletzt durch gute Textverständlichkeit. Das sensible Spiel der ersten Violine entsprach der Zartheit dieser Musik.
Kriegers Moderation war weit mehr als nur die Ansage von Titeln und die Vorstellung der allesamt mit Begeisterung mitwirkenden Künstlerinnen und Künstler. Seine unaufgeregte Art verbarg nicht die Rührung und Freude darüber, daß das Lübecker Haus wieder mit der Qualität in Quantität glänzen darf, die es zu einem der besten Theater im Norden gemacht hat.
Dahinter steht auch eine Verantwortung für die hochengagierten Kräfte. Vladar hatte sich persönlich dafür eingesetzt, daß alle Gäste und Freiberuflichen, denen aus Corona-Gründen Engagements weggefallen waren, zum Teil oder zur Gänze bezahlt wurden. Zudem hat die Leitung den meisten der genannten Folgeverträge angeboten, was tatsächlich nicht alle Veranstalter und Häuser tun. Das hat sicher die eine oder andere Depression gemildert oder verhindert.
Auf Stillstand folgt in Lübeck kein gemächliches Sich-Erheben, sondern mitreißende Lust an großer Kunst. Fulminant war folglich zum Beginn des zweiten Teils das Philharmonische Orchester mit dem Schleiertanz aus Strauss´“Salome“. Der satte Klang und die differenziert ausgespielten Tempi mit wild-rhythmischen Eruptionen ließen keinen Zweifel, daß es hier um echten Sex ging und das orgiastische Ausloten der eigenen Reize, um das Unerhörte zu erreichen.
Fast brav kam dagegen das Quartett aus dem 2. Akt des „Fidelio“ mit Bea Robein, Bernhard Berchtold, Anton Keremidtchiev und Rúni Brattaberg daher, wenngleich ausgesprochen beschwingt und frisch.
María Fernanda Castillos klarer und voller Sopran bot herzergreifend die Arie der Lisa aus Tschaikowskys „Pique Dame“, ein weiterer, dazu sehr emotionaler Glanzmoment des Abends. Herausragend war auch der Bariton Anton Keremidtchiev mit der Cavatine des Aleko aus Rachmaninows gleichnamiger Oper und seiner authentischen Darstellung. Warum wird diese zauberhafte Oper eigentlich so selten aufgeführt?
Joo-Anne Bitters heller Sopran und gutes Textverständnis gaben dem 4. der Fünf Lieder, „Befreit“, von Strauss eine schillernde Präsenz; aus diesem Lied ist der Titel des Abends entlehnt.
Diejenigen, die sich an den letzten Gala-Abend erinnern, hatten den Eindruck, als hätte Rúni Brattaberg das Sofa in der letzten Nummer abonniert. Auf dem hatte er vor einem Jahr den Ochs aus dem „Rosenkavalier“ gegeben“, nun war es Sir Morosus aus Strauss´ “Die schweigsame Frau“. Seine Arie „Wie schön ist doch die Musik“ geriet zum sympathischen Lach-Finale, denn die Titelzeile endet ja schließlich mit „aber wie schön erst, wenn sie vorbei ist!“. Brattaberg sank mitsamt seinem tiefen Baß satt und zufrieden in den Fauteuil. „Unbeschreiblich wohl“ durfte sich das Lübecker Publikum mit ihm fühlen, wenngleich es weniger nach der im Libretto beschworenen Ruhe verlangte, sondern nach gemeinsam gehörter, lebendiger Musik. Die bekam es noch als begeistert erklatschte Zugabe in Form des Schlußsextetts aus dem 2. Akt von Mozarts „Don Giovanni“. Mit Leidenschaft gibt sich die Kultur der Welt zurück.
Andreas Ströbl, 21.9.2021
Photos (c) Olaf Malzahn