Besuchte Vorstellung: 10. November 2019
Heiligsprechung abgelehnt!
„Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung.“ Als Georg Christoph Lichtenberg in den 1780er Jahren diesen tiefsinnigen Satz in seine „Sudelbücher“ schrieb, lagen die Massaker an den Cheyenne von Sand Creek (1864) und von Wounded Knee an den Lakota und verwandten Stämmen (1890) zwar noch in Jahrhundertferne. Aber die Spanier hatten im Namen Gottes und von maßloser Gier nach Gold und Silber getrieben mehr als 90% der ursprünglich geschätzt 60 Millionen süd- und nordamerikanischen Ureinwohner innerhalb des ersten Jahrhunderts nach 1492 entweder abgemetzelt, durch Sklavenarbeit vernichtet oder durch die von ihnen eingeschleppten Krankheiten umgebracht. Allein auf Hispaniola, der zweitgrößten der sogenannten Westindischen Inseln, lebten am schicksalsträchtigen 5. Dezember 1492 acht Millionen Indianer. 43 Jahre später waren alle tot. Bedauerlich war das für die Spanier nur deshalb, weil die sogenannten „Wilden“, mit deren zivilisatorischen Errungenschaften übrigens Europa teilweise erst im 19. Jahrhundert mithalten konnte, nun als Arbeitskräfte fehlten. Da lag es nahe, gleich Afrika als Sklavenproduktionsmaschine mitauszubeuten. Aber es gab ja auch im Inneren des Kontinents noch genügend Ureinwohner, die sich zu Zehntausenden in den Silberminen des bolivianischen Potosì zu Tode arbeiten mußten, um den Glanz Spaniens und die Ehre Gottes zu mehren. Da Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon im nämlichen Jahr 1492 alle Juden und Muslime aus Spanien hatten gewaltsam vertreiben lassen, was für die spanische Wirtschaft katastrophal war, kam Kolumbus Wiederentdeckung des Doppelkontinents gerade recht. Fanden die indianischen Sklaven kein Gold, ließ er ihnen die Hände abhacken.
Der Schatten des Kolonialismus ist lang und er fällt auch auf uns. Diskussionen und Verhandlungen um geraubte Kunstschätze und menschliche Überreste bestimmen das Tagesgeschäft vieler europäischer und US-amerikanischer Sammlungen und Museen, und sie sind bitter nötig. Ebenso notwendig ist auch eine angemessene künstlerische Auseinandersetzung und die bietet das Theater Lübeck – nein, nicht eigentlich mit Darius Milhauds Oper „Christoph Colomb“ von 1928, sondern mit ihrer Inszenierung durch Milo Pablo Momm. Er nimmt mit Hilfe einer Videoeinspielung die Zuschauer sofort an der Hand und führt sie gleich wieder aus dem Theater heraus: Hat man es sich auf den Fauteuils gerade gemütlich gemacht, darf die Aufmerksamkeit nicht bequem sitzen bleiben, sondern muß mit durch die Straßen Lübecks bis zum Völkerkundemuseum, wo die Exponate in Regalen und Kartons liegen oder stehen. Und die sind lebendig. Man merkt es manchmal erst auf den zweiten Blick, daß da wie Statuen stehende Schauspieler oder nur ihre Köpfe sichtbar werden und es wird klar, daß es bei vielen der Ausstellungsstücke in unseren Museen, eben nicht beispielsweise ein, wie noch vor Jahrzenten auf Objektbeschriftungen zu lesen, „Negerschädel aus Deutsch-Südwest“ präsentiert wird, sondern daß hier der Kopf des von seinem Stamm hochverehrten Urgroßvaters aus Ohamakari liegt, den der eigene hochverehrte Urgroßvater massakriert und dessen Schädel er als Trophäe nach Hause gebracht hat.
Momms Inszenierung ist von vornherein kritisch bzw. ironisch gebrochen angelegt, wie der bewußt überdrehte Vortrag des Sprechers (Merten Schroedter) unterstreicht, und anders läßt sich weder das Libretto noch die Oper inhaltlich auch nicht ertragen, geschweige denn auf eine Bühne des Postkolonialismus bringen. Dabei ist Milhauds Musik, wenn sie auch mitunter kracht und scheppert, größtenteils wunderschön und verfügt an vielen Stellen über eine mitreißende Rhythmik, die immer wieder an den revolutionären Duktus eines Kurt Weill denken läßt. Man kommt als moderner Mensch überhaupt nicht auf die Idee, daß der Komponist auf Grundlage des Librettos von Paul Claudel das alles ernstgemeint hat. Aber Milhauds enger Freund, der allerkatholischste Diener Ihrer ebensolchen Majestät Isabella, hat tatsächlich eine Art Heiligsprechung des Initiators eines des schlimmsten und langwierigsten Völkermords in der Menschheitsgeschichte angestrebt. Der Schriftsteller und Diplomat war der jüngere Bruder der berühmten Bildhauerin Camille Claudel; er hatte wesentlichen Anteil daran, daß Auguste Rodin sie als einzige Schülerin unterrichtete.
Es wirkt manchmal so, als hätte Momm sich eher von ihr als von ihrem Bruder inspirieren lassen, denn immer wieder verharren die Sänger und der Chor in tableauhaften, wie gemeißelt wirkenden Posen. Die Farbigkeit ist stark reduziert, sowohl im Bühnenbild als auch in den Kostümen und so wirken die wenigen farbigen Gewänder, Requisiten oder auch während der Vorstellung auf die Kulissen gemalten Beschriftungen um so stärker. Das ist zwar nicht neu, aber optisch bezwingend und lenkt die Konzentration auf die wesentlichen Aspekte. Die immer wieder auf den Erbs-Tüll oder die Kulissenwände projizierten Bilder sind schattentheaterhaft reduziert und erzählen die echte Geschichte von den versklavten, hingerichteten und gedemütigten Menschen, denen Leben, Würde und Geschichte geraubt wurden.
Das Orchester unter der Leitung von Andreas Wolf erfüllte das Theater mit Milhauds durchaus nicht einfach zu spielender Musik so kraftvoll und mitreißend, daß die Solisten stellenweise immer wieder untergingen. Der Bariton Johan Hyùnbong Choi in der Titelrolle, eigentlich eine verläßliche Lübecker Größe, war in den Tiefen meist kaum zu hören und es blieb manchmal fraglich, ob er sich nicht gegen das Orchester durchsetzen konnte oder ob dieses einfach zu laut war. Evmorfia Metaxaki, ebenfalls eine bewährte Lokalmatadorin, hatte es als Isabella einfacher, weil ihre Passagen musikalisch sich mehr auf die Sopranistin konzentrieren; sie ist aber auch einfach stimmlich zuverlässig und als Königin glaubhaft strahlend. Am überzeugendsten sowohl vom Gesang her als auch schauspielerisch war der Tenor Daniel Jenz als Teufel mit seinen verschiedenen Unterrollen. Den könnte man sich auch gut als Loge vorstellen.
Der Chor (und Extrachor) des Lübecker Theaters hatte den wohl dankbarsten Part, da das Werk stark chorlastig ausgerichtet ist. Die Chormitglieder sind samt ihren Gesichtern in reduzierte schwarze Kleidung mit nur wenigen weißen Accessoires gehüllt; es wird hier mit Begriffen wie unterdrückter Individualität und Massenbewegung gespielt. Gesang und Ausdruck waren exakt und stark, was angesichts der intensiven und aufeinander abgestimmten Bewegungen große Herausforderungen an die Mitwirkenden stellte und die Musik mit einer fast filmischen Dynamik intensivierte. Die Chorpartien sind oft schrill, was gerade in dieser Inszenierung hervorragend zur problematischen Thematik paßt und den Hörer ein weiteres Mal in die Frage drängt, ob sich bei der Kompositionsarbeit des Juden Milhaud, der später vor den Nazis fliehen mußte, nicht doch ein moralisch-kritischer Unterton in die Noten geschlängelt hat.
Oder genügt hier schon, im Sinne von „wo gehobelt wird, fallen Späne“, die in Claudels Libretto angeführte Einschränkung, daß Columbus Gott zwar versprochen hat, die Welt der Finsternis zu entreißen, aber "nicht dem Leid"? Schließlich wird der Eroberer ja im Stück mit seinen Taten konfrontiert. Möglicherweise hat sich Milhaud auch schlichtweg von der musikalischen Beweglichkeit und Lebendigkeit der brasilianischen Folklore begeistern lassen, die er als Begleiter Claudels in Südamerika kennengelernt hat.
Deutung und Fragen des Werkes an sich und der Realisierung für die Bühne erfordern hier mehr als sich nur in den Theatersessel zu setzen und wahrzunehmen. Seit Jahren gibt es im Theater Lübeck die wunderbare Einrichtung der „Kostprobe“, das heißt, daß Regisseur und/oder Dramaturg die Inszenierung an einem Abend kurz vor der Premiere vorstellen und die Zuschauer gratis an der Probe eines Teils der Produktion teilnehmen können. Ohne diesen mehrschichtigen Einblick, der immer noch von viel zu wenigen Lübeckern genutzt wird, wäre das Verständnis der inszenatorischen Grundidee im Fall von „Christophe Colomb“ den meisten Zuschauern sicher schwergefallen. Erschwerend hinzu kamen technische Probleme mit den Übertiteln, die gerade bei einem nahezu unbekannten Libretto unerläßlich sind. Die mitunter schnell gesungenen und gesprochenen Texte waren zwar bereits für die Projektion (inhaltlich nicht immer ganz geschickt) verkürzt worden, fielen aber zwischenzeitlich völlig aus. Auch bei starker Konzentration war der Text bis auf Fragmente wegen der Überdeckung durch das Orchester oder unklare Artikulation streckenweise nicht verständlich.
Das Nichtverstehen durchzieht als Schriftzug leitmotivisch in der Tat die ganze Aufführung, denn – das erschließt sich dem Zuschauer nur nach entsprechender Recherche, auch das Programm-Faltblatt verrät die Bedeutung nicht – einige Indianer-Darsteller pinseln mit großen Lettern immer wieder „MA C´UBA THAN“ auf die Kulissen. Vielleicht soll der Theaterbesucher selbst auf die Suche gehen und wenn er fündig geworden ist, dann eröffnet sich ein 500 Jahre altes Mißverständnis. Angeblich sollen die Spanier, als sie in Yucatán angekommen waren, die dort lebenden Maya nach dem Namen des Landes gefragt haben, worauf einer antwortete: „ich verstehe dich nicht!“. Das muß gelautet haben wie „yuk ak katán“ oder eben „ma c´uba than“ und daher rührt, der Überlieferung nach, der spätere Name der Halbinsel.
Man verstand die Sprache des anderen nicht und die Eroberer wollten auch die Kultur der indigenen Bevölkerung nicht verstehen, das war für das Plündern und Morden auch nicht notwendig. Geraubt werden immer auch Sprachen, Namen und damit Identitäten. So stahl Kolumbus der Insel Guanahani, dem ersten von ihm angelandeten amerikanischen Boden, ihre indigene Bezeichnung und ersetzte sie durch „San Salvador“, widmete sie also dem Erlöser. Auf der Bühne wird dieser Akt der nominellen Okkupation durch Überhängen der ursprünglichen Bezeichnung realisiert, auf die später „Eldorado“ folgt. Spätestens dann ist klar, daß es den Eroberern nur noch um die Anbetung des Goldes geht.
Ihre modernen Nachfolger sind Typen wie Trump und Bolsonaro, die die Rechte der Ureinwohner mit Militärstiefeln treten, ihnen die letzten Lebensräume rauben und denen in ihrer egomanen Kurzsichtigkeit auch die Zukunft der eigenen Kinder egal ist. Folgerichtig nehmen einige der Videoeinspielungen aktuelle Themen auf und zeigen aufmarschierende Soldateska und überfüllte Flüchtlingsboote.
Angesichts all dieser Dramen können die im Libretto vorgenommenen Assoziationen des Conquistadors mit Noah, Moses, Johannes, der Taube (columba!) des Heiligen Geistes und vor allem Jesus nur als Zumutung empfunden werden und man ist Momm dankbar für die blutige Ehrlichkeit, mit der er sich der Aufgabe der schwierigen Inszenierung eines schwierigen Stückes stellt. Diese Klarheit ist am bildstärksten in der konsequent übersteigerten Schlußszene, als ein gekreuzigter Salvador, der Erlöser Christoph – „Christusträger“ – seiner Verklärung entgegenschwebt. Der Heiligenschrein mit den lebenden Statuen der Märtyrer Sebastian und Jakobus wird von Adorantinnen mit blutigen Lilien gesegnet, auch ihre weißen Gewänder sind voller Blutflecken. Der Hintergrund sieht aus wie eines der riesigen Blutbilder von Hermann Nitsch und erinnert manchen Lübecker an dessen großartige Ausstellung in der St. Petri-Kirche. Der Wiener Aktionskünstler hatte 1991 den Themenkomplex Passion, Verwundung und Heilung ganz ohne Orgien-Mysterien-Theater ins Zentrum seiner Lübecker Präsentation gesetzt. Das Opfer stand und hing hier im Mittelpunkt und ebenso geschieht das bei „Christophe Colomb“. Über eine ästhetisch höchst anspruchsvolle Bildproduktion hinaus schreit das Rot von der Bühne. Die, deren Blut da rinnt, können nicht mehr schreien.
Ausgesprochen schade ist es, daß bei der dritten Vorstellung der Oper das Theater zu höchstens drei Vierteln gefüllt war. Die Lübecker dürfen ihrem Theater gerne etwas dankbarer sein, daß die Leitung des Hauses immer wieder Stücke aus dem Randrepertoire aufnimmt und Mut zu aufregenden Inszenierungen hat.
(c) Jochen Quast
Andreas Ströbl, 13.11.2019