Lübeck: „Hänsel und Gretel“

(Premiere am 12.11.10)

Echte Märchenstimmung

In dem eindrucksvollen Jugendstilsaal des Lübecker Hauses gab es eine zauberhafte Produktion aus 2010 von Engelbert Humperdincks berühmter Märchenoper zu sehen. Im ersten Bild die ärmliche Stube des Elternhauses der Kinder, dann ein Wald, in dem man froh nach Beeren suchen, aber auch Angst haben konnte, ein einladendes Knusperhäuschen und – wichtig! – keine Angst vor Kitsch beim Abendsegen, wenn sich die mit großen Flügeln ausgestatteten Engel langsam rund um die schlafenden Kinder gruppierten (Ausstattung: Thomas Döll).

Herbert Adler (als Schauspieler in so fordernden Rollen wie Mephisto oder Othello tätig, als Regisseur vom Publikum u.a. für seine Inszenierungen beim Wagner-Festival Wels geschätzt) nahm die Geschichte ernst und hatte offensichtlich sehr gut mit den Sängern gearbeitet, denn die Vertreterinnen der Titelrolle waren von größter Natürlichkeit und machten nicht diesen unglücklichen Eindruck, den Erwachsene oft vermitteln, wenn sie Kinder spielen. Die Spielfreude war aber auch bei den anderen groß, und selten hat man ein so überzeugendes Zusammenwirken des Besenbinders und seines Weibes gesehen, vom Zorn über bis zur Sorge um die Kinder. Die Charakterisierung der Knusperhexe fiel im richtigen Ausmaß „erschröcklich“ aus (und auch Abendspielleiterin Jennifer Toelstede sei als Double für den Hexenritt vor den Vorhang gerufen).

Musikalisch bewegte sich der Abend auf hohem Niveau, denn das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck erwies sich als ausgezeichneter Klangkörper, der unter seinem mit Ende der laufenden Spielzeit scheidenden japanischen GMD Ryusuke Numajiri schon ab der Ouverture in den rein instrumentalen Momenten aufhorchen ließ, weil er die Wagner nacheifernde Dichte des Klangs mit gleichzeitiger Transparenz zu verbinden wusste. Als interessanteste Stimme des Abends erwies sich der dunkle, weiche Mezzo der Polin Wioletta Hebrowska, die als Hänsel auch in ihrer burschikosen Körpersprache bewundernswert war. Aber auch die Gretel Andrea Stadel bezauberte mit ihrem klangvollen Sopran und temperamentvollen Spiel. Als Mutter Gertrud beeindruckte die Amerikanerin Rebecca Teem mit dramatischen Tönen (kein Wunder, singt sie doch in Lübeck Brünnhilde und Isolde und wird demnächst in Essen als Elektra debütieren). Solide Vater Peter in der Gestalt von Steffen Kubach. Ihnen allen, sowie der Knusperhexe des Charaktertenors Michael Gniffke, ist hohe Wortdeutlichkeit zu bescheinigen, angesichts der vielen Kinder im Haus besonders wichtig. Noch etwas zaghaft klangen das Sandmännchen der Kolumbianerin Fiorella Hincapié und das Taumännchen der Südafrikanerin Caroline Nkwe, die an der renommierten Musikhochschule Lübeck ihre Ausbildung genossen haben. Der Kinder- und Jugendchor Vocalino unter Gudrun Schröder sang ausdrucksvoll und präzise; dazu gesellte sich der Extrachor des Theaters Lübeck.

Am 18.12. konnte man sich neuerlich von der Qualität des Philharmonischen Orchesters der Hansestadt Lübeck überzeugen, das unter dem Titel Winterträume das vierte Konzert seiner symphonischen Saison gab. Da die Konzerthalle mit ihren fast 2000 Plätzen im Kongresszentrum gerade saniert wird (sie wurde im September geschlossen, weil die Akustikdecke herabzustürzen drohte), müssen die Konzerte derzeit in der zu dem Komplex gehörenden Rotunde stattfinden, die immerhin auch gut 1500 Plätze besitzt und nach einigen Verbesserungen eine recht akzeptable Akustik aufweist.

Das Programm umfasste die symphonische Dichtung FESTKLÄNGE von Franz Liszt, das VIOLINKONZERT a-Moll op. 82 von Alexander Glasunow und nach der Pause Tschaikowskys Symphonie Nr. 1 g-Moll op. 13. Am Pult stand mit Matteo Beltrami ein Dirigent, der in der Lübecker Oper schon mit Verdis „Macbeth“ erfolgreich gewesen war. Er erwies sich auch als versierter Konzertdirigent, der Liszts etwas pompöser Komposition mit einer kleinen Prise Ironie beikam und dem Solisten Carlos Johnson, dem peruanischen Konzertmeister des Orchesters, ein äußerst aufmerksamer Begleiter war. Johnson zeigte sich als ausgezeichneter Techniker, der die Schwierigkeiten des mit Leopold Auer als Solist uraufgeführten Werks bestens im Griff hatte. Als Zugabe spielte er ein inniges Adagio für Streicher einer Komponistin, deren Namen ich leider nicht verstanden habe.

Aus der ihren Weg noch suchenden Arbeit Tschaikowskys, in der dennoch schon viele für den Komponisten charakteristische Stellen aufblitzen, machte Beltrami ein kleines Wunderwerk an melancholischer Stringenz. Es war auch schön, die gespannte Aufmerksamkeit des Publikums zu genießen, die durch keinen einzigen Huster gestört wurde.

Viel Jubel und zahlreiche Hervorrufe dankten dem Orchester und seinem Dirigenten.

Eva Pleus 30.12.16

Bild (c) Staatstheater Lübeck