Aufführung am 2.10.18 (Premiere am 29.9.)
Das große Missverständnis
Seit der Saison 1982/83 war Giuseppe Verdis fünfte Oper nicht mehr an der Scala zu sehen gewesen. Opernliebhaber freuten sich auf die Neuproduktion – und dann das! Sven-Eric Bechtolf, im Vorjahr mit seinem Team (Bühnenbild: Julian Crouch, Kostüme: Kevin Pollard) bei Humperdincks „Hänsel und Gretel“ überaus erfolgreich, setzte das Jugendwerk des genialen Komponisten aus Busseto in den Sand. Dazu ist es gekommen, weil es deutschen Regisseuren offenbar unmöglich ist, an die Ernsthaftigkeit und Bedeutung der Musik zu glauben, wenn das Libretto ein romantisch verworrenes ist. Wir alle wissen um das Gewicht von Victor Hugos „Hernani“, welches Stück in Frankreich die Romantik einläutete, indem es die Kothurne der klassizistischen Autoren überwand. Und Verdi hat mit seiner vorwärts drängenden, pulsierenden Musik dieses Anliegen der Romantik perfekt umgesetzt und sein Librettist Francesco Maria Piave Hugos Handlungsstränge entwirrt und eine packende Dramaturgie geschaffen. Glaubwürdig ist die Handlung um die drei Männer, die alle dieselbe Frau lieben, vielleicht nicht, aber dramatisch mitreißend ist sie allemal.
Und was tut Bechtolf? Da er nicht an das Werk glaubt, verspürt er das Bedürfnis, sich von ihm zu distanzieren, wobei er zu diesem Zweck die „Ironie der Romantik“ bemüht. Da denke ich aber spontan an Heinrich Heine und nicht an eine Inszenierung von Theater auf dem Theater. Bechtolf lässt das Stück durch eine vazierende Theatergruppe in Szene setzen. Abgesehen von der fehlenden Originalität dieses Einfalls macht er auch diese Truppe lächerlich, denn anfangs sehen wir, wie sie sich mit der Aufstellung der gemalten Kulissen abmüht, dann aber in prunkvollen Kostümen auftritt, die auf diesem Niveau für Theaterleute absolut unerschwinglich sind (und auch die Bühnenbilder werden immer grandioser). Dazu kam eine völlige Verzeichnung der Elvira, die als ewig händeringendes Hascherl gezeigt wird und in hellblauem Kleid und langen blonden Zöpfen wie eine Karikatur wirkt.
Da ihm offenbar auch zur Festmusik nichts einfiel, ließ sich der Regisseur von Lara Montanaro etwas schaffen, was nicht als Choreographie bezeichnet werden kann, denn zwei Ballerinen im Look der Belle Époque tanzen Cancan samt Spagat und über den Hinterteilen gelüpften Röcken. Dazu kamen bei der Premiere verschiedene Hinweise auf Tafeln, die den Ort der Handlung und ähnliches angaben. Als dann noch die besagten Ballerinen vor dem letzten Bild mit Hinweistäfelchen auf 3 Minuten Unterbrechung auftauchten, kannte der Volkszorn keine Grenzen mehr, und die „Schande“- und „Wir sind nicht im Kabarett“-Rufe gewannen die Oberhand. Dies kann ich nur nach der Erzählung von Premierenbesuchern berichten, denn beim Besuch meiner Vorstellung, der zweiten der Serie, waren alle diese Verfremdungselemente verschwunden – nur der Cancan blieb uns leider erhalten.
Diese Produktion ist ein echtes Ärgernis, das dem Zuschauer die Freude an dem Werk gründlich verderben kann. Dabei waren bei den Herren großartige stimmliche Leistungen zu hören. Francesco Meli gestaltete die Titelrolle (im ersten Bild gekleidet wie weiland Robin Hood) mit der von ihm bekannten nachdrücklichen Diktion und wunderbarer Linie.
Mit dieser Leistung trat er ein weiteres Mal den Beweis an, dass auch ein im Grunde lyrischer Tenor Rollen singen kann, die nach Attacke verlangen, sofern er die nötige Technik hat. Und Meli hat sie. Als Don Carlo, spanischer König und späterer Karl V., bestach Luca Salsi mit seinem kraftvollen Bariton, dem er aber auch z.B. in „Vieni meco“ wunderbare Piani abverlangen konnte. Der in diesen Tagen zwischen Parma („Macbeth“) und der Scala pendelnde Bariton erwies sich einmal mehr in seinem Fach und Repertoire als Mann der Stunde. Prachtvoll auch Ildar Abdrazakov als rachedurstiger alter Silva, der seiner Liebesleidenschaft mit sämigem Bass Ausdruck verlieh. Der Künstler hatte sich übrigens erfolgreich gegen einen langen, verunstaltenden weißen Bart gewehrt. Ailyn Pérez vermochte sich offenbar gegen die Rollenauslegung des Regisseurs nicht zu wehren, und die Tatsache, dass ihre schöne, für Mimì oder Liù geeignete Stimme nicht die Substanz für Elvira hat, machte die Sache nicht besser. Bei der Premiere wurde sie vom ohnehin schon erzürnten Publikum dafür bestraft. Diesmal gab es freundlichen Applaus für sie.
Aus dem Opernstudio fiel die Ukrainerin Daria Chernyi auf, die mit warm timbrierten Mezzo Elviras Amme sang (die hier ständig über die Bühne humpeln musste). Auch des Königs Begleiter Don Riccardo in der Gestalt des Tenors Matteo Desole war zu übermäßigem Grimassieren eines Brunnenvergifters angehalten. Als Jago, Silvas Knappe, ergänzte Alessandro Spina. Ádám Fischer leitete das Orchester des Hauses mit sicherer, schwungvoller Hand, ohne spezielle Akzente zu setzen. Der Chor glänzte neuerlich in der Einstudierung von Bruno Casoni.
Die Begeisterung des Publikums wurde durch diese Regie merklich gedämpft.
Eva Pleus 3.10.18
Bilder: Brescia&Armisano / Teatro alla Scala