Premiere: 17.12. 2015., besuchte Vorstellung: 2.1. 2016
LEONARD BERNSTEIN
Ein Stück für alle, souverän inszeniert
„’Candide‘ verkörpert die Anmut des Geistes, es ist das unübertreffliche Meisterwerk nicht nur eines Menschen, sondern einer bereits tausendjährigen Sprache, die ihren Höhepunkt erreicht hat und nun einige Seiten lang atmet, bevor sie wieder absinkt. ‚Candide‘ zeigt außerdem eine vollendete Unbekümmertheit, jene heitere Unbekümmertheit, die nur in einem Menschen entstehen kann, der sein ganzes Elend verstanden und der vor allem verstanden hat, dass er es nur durch Heiterkeit überwinden kann.“
Was der Voltaire-Biograph Jean Orieux einst in seiner Biographie über den heiteren Dichter und sein satirisches Meisterwerk geschrieben hat, gilt unterm Strich auch für jenes einzigartige Stück, das Leonard Bernstein und seine vielen Librettisten in den 50er Jahren geschrieben haben. Es entstand in unmittelbarem Umkreis von Bernsteins anderem unvergleichlichem Broadway-Stück, das gleichfalls auf einen klassischen Stoff der europäischen Literatur zurückgeht. Wer die glänzende wie ungeheuer kurzweilige Aufführung in der Münchner Reithalle erlebt, die das Gärtnerplatztheater einem begeisterten Publikum kredenzt hat, begreift nicht, wieso die Voltaire-Adaption bei seiner Bostoner Uraufführung im Jahre 1956 nicht ankam. Freilich haben erst die letzten großen Überarbeitungen, denen das Werk wie kaum ein zweites Broadway-Stück unterworfen wurde, und die Texte Stephen Sondheims dem „Candide“ den letzten Schliff verliehen; Bernstein selbst konnte das Werk noch kurz vor seinem Tod in einer wunderbaren Einspielung verewigen (1989, also genau zehn Jahre, nachdem der Autor dieser Zeilen dem Ausnahmemusiker in einer Berliner Autogrammstunde in die Augen schauen durfte, als der ihm mit seiner nikotinverseuchten Stimme verkündete: „Nur Bücher“. Wie gut, dass der Opernfreund damals schon lesen konnte… beispielsweise Bernsteins höchst lesenswerte Lectures über die Musik der Vergangenheit).
Die Münchner Aufführung bietet fast die gesamte Partitur, nur das Duett von Cunigonde und der Old Lady – „We are women“ – fehlt an diesem Abend. In Ausweichquartiere zu gehen
hat noch kaum einem Theater, das gerade renoviert wird, geschadet. Die Reithalle ist der ideale Ort für die irrwitzigen und schnellen Weltreisen des reinen
Toren, seiner geliebten Conigonde, des weisesten aller Philosophen – Pangloss – und all der anderen skurrilen Figuren, die einzig deshalb erfunden wurden, um zu beweisen, dass diese Welt eben nicht die beste aller möglichen Welten ist – und um das Publikum nachhaltig mit einem Witz zu erfreuen, der in einer genialen Mixtur aus Operette, Musical, parodierter Oper und Revue aufs musikalische Theater gebracht wurde. Folgt das Libretto über weite Strecken dem Roman von Voltaire – allerdings mit entscheidenden, vor allem das Finale betreffenden Unterschieden -, so durchläuft die Story in hoher Geschwindigkeit die Zeiten und Kontinente. Der Herausforderung begegnen die Regie (Adam Cooper) und der Bühnenbildner (Rainer Sinell) mit einem offenen Raum, in dem die Treppe inmitten der Zuschauertribüne ebenso für Auftritte (etwa der klerikalen Prozession) genutzt wird wie der Steg, der an der linken Bühnenseite für herausgehobene Positionen sorgt. Es ist schon beeindruckend, wenn der Chor (wahlweise in westfälischen, spanischen oder venezianischen Kostümen) an der Rampe und den beiden Seiten der Spielfläche unisono singt. Das Orchester ist laut genug, um ganz hinten, hinter einer fast undurchsichtigen Wand, die die Welt in einer Ansicht des 18. Jahrhunderts zeigt, platziert zu werden. Marco Comin leitet das Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz, dem Spezialisten auch für eine „leichte Muse“, deren Kunstmittel und deren Inspiration gewaltig – und schier amüsant sind.
Doch nicht nur amüsant. Bernsteins Werk schließt, bei allem sarkastisch-ironischem Witz und aller Broadway-Beschwingtheit, bei aller parodistischen Güte und rhythmischen Vertracktheit, auch das völlig klare Sentiment ein. Gideon Poppe ist ein ganz wunderbarer reiner Tor im Biedermann-Kostüm, dem seine melancholischen Nummern bewegend gelingen: „It must be so“ singt er dann, inmitten des Publikums stehend.
Cunegonde ist dagegen ein Püppchen, das sich eher in der beglückend oberflächlichen Welt des Spiels auskennt: großartig, wie Csilla Csövari die Prunknummer der komischen Operette, die die Juwelenarie von Gounods „Faust“ parodiert („Glitter and be gay“), auf die Bretter bringt: nicht als Musicaldarstellerin, sondern als Opernsängerin, der man den Spaß an Bernsteins geistreichen Witzen anhört und -sieht. Auch die Old Lady, die einst von Christa Ludwig gestaltet wurde, ist, sozusagen, in besten Händen, auch mit einer, aber wirklich nur einer prachtvollen Hinterbacke (um mit Voltaire und Bernstein zu reden): Die äußerst vital agierende Dagmar Hellberg ist der Mittelpunkt einer hinreißenden, spanischen Shownummer („I am easily assimilated“). Überhaupt macht die Choreographie immer einen Sinn: wenn der Chor – in seiner neutralen Rolle als bloßer „Chorus“ – in reinweißen Gewändern und Perücken erscheint, werden nicht nur Weisheiten verkündet. Erst durch die Choreographie werden die Bilder lebendig: bis zum bezwingenden Finale, in dem plötzlich alle Beteiligten das Einfachste und Eindrücklichste machen, indem sie ihre Botschaft letzten Endes oratorisch verbreiten: „Make our garden grow“. Und wir verstehen, welchen Sinn die absolut komisch abgehandelten Schlächtereien der letzten drei Stunden hatten.
So glänzend wie Candide und die beiden Frauen, die zugleich Karikaturen, entzückend holzschnitthafte Charaktere und Marionetten ihrer Autoren sind, sind auch die Herrenpartien besetzt. Alexander Franzen führt als Voltaire in den Abend ein und spielt dann, natürlich, den Pangloss, der auch durch eine Syphilis und eine Hinrichtung nicht von seinem Glauben an eine vollkommene Welt abgebracht werden kann. Franzen ist auch der Cacambo, der unseren Helden durch Amerika begleitet, und der Pessimist Martin, dem Bernstein – als Komponist und Textdichter – eine prachtvoll zynische Nummer geschenkt hat: „Words, words, words“. Franzen spielt, wie alle Akteure, mit Tempo, aber nicht überhitzt. Er gibt dem komödiantischen Affen der völligen Übertreibungen Zucker – und singt mit dem Nachdruck eines erfahrenen und vokal gut ausgebildeten Musical-Sängers. Erwin Belakowitsch, dessen Karriere bei den Wiener Sängerknaben begann, ist ein erstklassiger Bariton, der Cunigondes arroganten Bruder Maximilian mit schönstem Ausdruck bringt. Man hört: Bernsteins „Candide“ ist ein Stück für alle – für Opern-, Operetten- und Musical-Aficionados.
An diesem Abend stimmt wirklich alles: die Ausstattung, die auf der quasi leeren Bühne nichts vermissen lässt, das Licht, das Paris in das passende Walzer-Rosa und das Goldland Eldorado in warme Farben taucht, die Darsteller der vielen „kleinen“ Rollen, die, wie Juan Carlos Falcón, mehrmals das Kostüm wechseln müssen und nicht nur als Gouverneur mit einem Namen, „der länger ist als sein Schnurrbart“, präzis und witzig agieren. Der zwergwüchsige Markus Hoffmann überrascht als grotesk maskierter Baron Thunder-ten-Tronck, und Paquette, die entzückende Zofe, an der der größte Philosoph der Welt seine Experimentalphysik praktiziert, wird von Nazide Aylin so charmant gebracht, dass man es bedauert, dass Voltaire und Bernstein ihr keine größere Rolle als die der gelegentlichen Besucherin schenkten – doch erblickt man sie, das ist so der Corpsgeist, oft im Ensemble. Wunderbar auch das Ensemble der Könige (unter ihnen König Herrmann August als Look-alike des „Kinis“), die auf dem Meer beschließen, fortan ein „einfaches Leben“ zu führen – ein Plan, den sie sofort in der venezianischen Spielbank umsetzen, wo der Walzer-Ohrwurm „What’s the use“ (über die Nutzlosigkeit, ein Gauner zu sein) mit Schwung gebracht wird.
So erweist sich die satirische und doch bitterernste Operette über die Frage, wie man sich am besten in dieser Welt einzurichten hat, auch als Vehikel für eine kurzweilige und technisch perfekte Bühnenshow voller Tempo, Witz, Charme und, ja, Anmut. Mögen die als Tod maskierten Tänzer auch durchs Autodafé tanzen, und mag der Zuhörer auch die leicht genommene Ironie des Duetts begreifen, in dem Candide und seine Angebetete ihre durchaus unterschiedlichen Auffassungen einer glücklichen Ehe musikalisch so äußern, als gäbe es da keine Unterschiede – am Ende triumphiert doch das Leben. Nicht das scheinbar ideale Leben, das in Eldorado herrscht, in dem arkadische Ballette mit verdammt hübschen Tänzerinnen und Tänzern an der Tagesordnung sind und rote Hammel pfundweise Gold und Diamanten schleppen, auch nicht das Leben im südamerikanischen Urwald, in dem sich die Frauen Affen als Liebhaber nehmen, sondern ein Leben, in dem man kleinere Brötchen bäckt. Der Rest ist nicht Spaß, sondern ein Ernst, der erst vor dem Hintergrund der irrwitzigen und blutigen Späße seine Wirkung zu entfalten vermag.
Starker, zurecht begeisterter Beifall für einen souverän inszenierten und gespielten Abend, der Bernsteins Meisterwerk ins richtige, wenn auch bisweilen leicht neblige Licht setzt.
Fotos (c) Christian Dashuber / Christian POGO Zach
Frank Piontek 4.1.2016
Als Opernfreund-Zugabe und Schmankerl die sensationelle (und hochschwierige !) Top-Arie des Stücks „Glitter an be gay“ – absoluter Koloraturwahnsinn als Parodie auf alle Koloraturarien dieser Opern-Welt
Juna Anderson 1989 (Bernstein dirigiert höchstpersönlich)