Premiere: 30.9.2018
Es gab Zeiten, da begannen Opernintendanten ihre Ära vorzugsweise mit den „Meistersingern“ oder dem „Fidelio“, manchmal auch mit Abseitigerem. Immer aber ist der Beginn einer Intendantenära eine Setzung. Götz Friedrich eröffnete seine Intendanz an der Deutschen Oper – lang, lang ist’s her, aber unvergesslich – nicht mit einer „leichten“ Oper, sondern mit einer schweren und seinerzeit selten aufgeführten Maschine aus dem slawischen Repertoire: mit dem inzwischen öfters erscheinenden „Aus einem Totenhaus“.
Jens-Daniel Herzog ist ähnlich kühn, wenn er zum Beginn seiner Intendanz ein Großwerk der Russischen Oper aufs Programm setzt, das – leider – gleichfalls nur sehr selten „live“ zu erleben ist; bei den Salzburger Festspielen, die ja nun wirklich die Bühnen haben, um die halbe russische Armee einreiten zu lassen, fand diese Oper im Jahre 2004 (immerhin) zu einer konzertanten Aufführung – doch auch sie war, wie die Inszenierung Jens-Daniel Herzogs unter dem grandiosen Dirigat der neuen GMD Joana Mallwitz, gekürzt. Mit Blick auf das gesamte Werk mag der Prokofjewianer den Verlust einer knappen Stunde Musiktheater bedauern, aber dramaturgisch sind die kleinen und großen Schnitte, vor allem im Kriegs-Teil mit seinen wiederholten Partisanen-, Jäger und Kosakenaufmärschen, vertretbar. „Krieg und Frieden“ also, ein Meisterwerk Sergej Prokofjews, der nie das Glück hatte, eine komplette Aufführung dieses (unter Rostropowitschs Leitung) 4 Stunden und 5 Minuten dauernden Werks zu erleben. Dabei bezeichnete der Komponist genau dieses Opus als sein bedeutendstes: ein Schmerzenskind, das unter die Räder der sowjetischen Kulturpolitik geriet und keine Chance hatte, unter Stalin und dem ebenso schrecklichen Kulturideologen Shdanow adäquat aufgeführt zu werden. Dabei hatte Prokofjew doch alles getan, um den Vorschlägen des Politbüros nach „Volkstümlichkeit“ (gegen den immerzu vermuteten „Formalismus“) entgegenzukommen. Man hört es dem Werk deutlich an – dies ist sein Faszinosum, doch zugleich seine Last: dass sich der Komponist, naiv wie er war, vor den Karren des Stalinismus spannen ließ, um künstlerisch zu überleben, was ihm kein Kritiker seines Werks verdenken sollte. Denn Prokofjew schrieb selbst dann, wenn er eine Huldigungskantate für Stalin („Heil Stalin!“) oder eine grandiose Festmusik zum Jubiläum der Oktoberrevolution schrieb, handwerklich exzellente und ästhetisch schillernde Musik. An „Krieg und Frieden“ aber hing sein Herzblut – und die Hypothek, die die Zeitläufte ab 1942 mit sich brachten, wenn es darum ging, ein nur scheinbar historisches Thema zu einem aktuellen zu machen. Dass in Prokofjews Oper gezeigt wird, wie Menschen – allesamt „Späne in einer großen Maschine“, wie Pierre Besuchow ganz richtig bemerkt – hingerichtet werden, ist ausnahmsweise nicht Schuld des sog. Regietheaters. Es steht schon im Buch der russischen Geschichte, die da abgespiegelt wird – und in der Partitur. Was heißt: Es wummert gewaltig an diesem gewaltigen, weil gewaltig erregenden Abend.
Wie also geht Jens-Daniel Herzog mit dem stalinistischen Erbteil des Werks um, das, fehlte es ihm, seltsamerweise auf eine Leerstelle hinauslaufen würde? Denn pünktlich zum Kriegsbeginn einen lange hin- und hergewälzten Stoff auf die Bühne zu bringen, der für das sowjetische Publikum der 40er Jahre noch und nöcher Identifikationsmomente bereit hielt, ging schlicht und einfach nicht ohne jene patriotischen Gesten, wie sie die Sowjetpropaganda seit jeher kannte. Herzog macht etwas, was nicht in jeder Inszenierung funktioniert; hier aber ist es der Weg zum (inszenatorischen) Glück: er entdeckt, natürlich, in der Oper alle 4 Zeitschichten, die das Werk mit der Gegenwart verbinden: 1809-1812, Tolstois Epoche, die Stalinzeit, Putins Russland. Die Kostümfrage ist entscheidend: wo sich die Damen der Moskauer Gesellschaft heute in pseudohistorischen Schick werfen und die Folklore eines Huldigungsgesangs an den (neuen) Zaren quasi herbeizitiert wird, wo Militärmäntel ein Einheitsgrau aufweisen und die Franzosen in nationalfarbige Kunstuniformen gekleidet werden, wo ein General Kutusow wie eine Bilderbuchgestalt aus einer opulenten Verfilmung auftritt. Und so singt er ja auch: gewaltig schollernd, das nationale Thema aus der Filmmusik zu „Iwan dem Schrecklichen“ aufnehmend, das dort den Zug zur Schlacht von Kazan begleitet, die Kraft, Leidensfähigkeit ud Gefährlichkeit des russischen Volkes preisend: „Mit den Knochen unserer Feinde wird sich unser Land bedecken“. Wo es schliesslich egal ist, ob Natascha wie eine Dame von 1809 oder ein verwirrtes junges Mädchen von 2018 aussieht, gelingen der Inszenierung auch in Sachen Kostüm überzeugende Lösungen: ein zugleich historisierendes und modernes Patchwork, aber ein durchdachtes. Im Übrigen ist schon die Interpretation eines „Wunderdoktors“ als eines Schönheitschirurgen für die Upper Class der reichen Russinnen so sinnvoll wie hintersinnig. Ein Abrieb des Textes an der Interpretation findet an diesem Abend nicht statt.
Herzog bewältigt, zusammen mit dem Bühnenbilder Mathis Neidhardt und der Kostümbildnerin Sibylle Gädecke, nicht nur die optische Frage, sondern auch die politische. Er ist nicht so dumm, den Feldmarschall Kutusov, dem das Finale des letzten Bildes gehört, wie ein Abziehbild von Stalin auftreten zu lassen (eher erinnert der alte Bolkonski, also Fürst Andrejs Vater, mit seinen buschigen Augenbrauen und seinem Schnurrbart an das böse „Väterchen“ Stalin, der es liebte, seine Untertanen zu demütigen und zu vernichten). Er denunziert nicht die schrecklich markigen Volkschöre, die mit ungeheurer Wucht in den Raum knallen: das Epitaphium, das Prokofjew erst für die überarbeitete, um einige martialische Bilder, aber auch um eine Ball-Szene erweiterte Fassung komponiert hat, donnert nicht zu Beginn oder am Anfang des zweiten Teils in den Saal, sondern am Ende des ersten. Der Schock ist gewaltig, doch man versteht: Krieg ist eine Katastrophe sein, aber man begreift. Man stimmt zu, aber die Aggression der Masse ist zugleich gegen alle Zivilisation. Die Sache ist barbarisch – aber die Musik ist eben doch furchtbar mitreißend. Das Dilemma bleibt, es ist dem Stück eingeschrieben, es wird nicht glattgebügelt: weder affirmatorisch noch besserwisserisch. Diese offene Strategie mag auch mit der großen Qualität des Nürnberger Opernchores zu tun haben, der unter der Leitung von Tarmo Vaask schon am Beginn der Intendanz Jens-Daniel Herzog die Gelegenheit hat, sich von Neuem in einer Hauptrolle zu beweisen. Ich vermute übrigens auch, dass die Stückwahl nicht allein auf die Überzeugung zurückgeht, es bei „Krieg und Frieden“ mit einem großartigen Stück und einem, leider, wichtigen Thema zu tun zu haben. Wo sich das Ensemble in vielen Rollen zeigen (im Original treten nicht weniger als 72 Solisten auf) und das Orchester mit der neuen GMD glänzen darf, muss es ein Stück wie dieses sein. Man hätte ja auch „Palestrina“ spielen können – doch wären hier die Frauen fast komplett in der Gasse geblieben.
Dass dieses Russland nicht mehr das Russland eines Historienfilms sein kann, macht schon das erste Bild klar. Russische Birkenwälder sind nur noch ein abblätterndes Bild. Seltsamerweise funktioniert das alles: weil sich das Drama im ersten Teil, mehr oder weniger, um die Geschichte Andreis und Nataschas dreht, auch um die Spiele in der russischen Gesellschaft. Jochen Kupfer ist dieser Andrej, man hätte in Nürnberg keinen Besseren finden können: bis zur abgründigen Sterbeszene, diesem tief bewegenden, eher lyrischen, wenn auch verzweifelten Kontrasts innerhalb des Kriegs-Teils. Andrej muss auch nicht, im Stil des Micky-Mousing, mit Natascha tanzen. Doch doch, er tut es, aber die Choreographie (Ramses Sigl) beschränkt sich nicht auf Walzerschritte, sondern betont – in einem von Kai Luczak psychologisch ausgeleuchtete Raum – das komplizierte Verhältnis zwischen den beiden Figuren. „Richtig“ tanzen werden sie erst, wenn Andrej stirbt: sich in Erinnerung an ihren „ersten Tanz“ in einen Totentanz stürzend. Die Inszenierung ist, nebenbei gesagt, von hoher Musikalität; man merkt’s an Bildern wie diesen. Mit Eleonore Marguerre hat dieser Abend mit einer vokal annähernd idealen und schauspielerisch vollkommenen Rollengestaltung eine überwältigend gute Natascha gewonnen. Der enorme Beifall des Publikums war dieser genau agierenden, die Natascha als autonome wie verwirrte junge Frau auf dem Weg zu sich selbst porträtierenden Sängerin sicher. Auch neu im Haus: Zurab Zurabishvili. Mit seinem dynamisch voluminösen wie differenziert artikulierenden italienischen Tenor und deutlich gehemmten Gesten zeigt er den Pierre Besuchow als einen Gerechten unter Ungerechten. Anatol Kuragin, der flotte und feige Verführer, ist Tadeusz Szlenkier: die glänzende Ansicht eines dominant singenden Hedonisten. Ein moralischer Gegenpart: Nicolay Karnolsky orgelt ganz wunderbar den alten, einäugigen Haudegen Kutusov; dessen heroisch-sentimentale „Arien“ sind in Karnolskys Kehle wie zuhause, aber der Bassbariton „kann“ auch die kleine, aber wichtige Partie des alten Bolkonski, der seine ungebetenen Gäste in Unterhose begrüßt und beschimpft, bevor er sich, bewusst provokant und abschätzig, an seine Sekretärin heranmacht (der einzige Einspruch meinerseits gegen die Regie: Ich verstehe die Szene: als ätzenden Kontrast zu Nataschas authentischer und herrlich ausgesungener Herzensnot, aber als Zuschauer wird man – da ein bewegtes Bild immer mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht als ein statisches – von der Hauptsache abgelenkt. Ob man will oder nicht.).
Napoleon tritt übrigens auch auf, doch zunächst – gegen die Anweisung der Partitur – nur vermittelt: die Russen spielen, um ihre Angst zu überwinden, sich den Napoleon vor. Sangmin Lee macht das mit einem mächtigen Bariton – den falschen wie den richtigen Bonaparte, der Pierre Besuchow in einer Vision vor die Pistole läuft. Beeindruckend: Martina Dikes strenge Achrossimowa, die dem jungen Ding nach der lächerlich missglückten Entführung zurecht Vorhaltungen macht, auch wenn das noch nicht weiß, dass Anatol ein leichtlebiger Bigamist, doch kein Mann für die Ewigkeit ist. Wieder großartig mit seinem leicht geführten Charaktertenor: Martin Platz, dessen lebenskluger wie phlegmatischer Plato Karatajew, der noch kurz vor dem Endsieg erschossen wird, ein wenig die Rolle des obligatorischen Gottesnarren einnimmt. Der Rest ist ein Ensemble, das man erst einmal zusammenschmieden muss: Irina Maltseva als Luxuspuppe Hèléne Besuchowa, Katrin Heles u.a. als Sonja, Nataschas Vertraute, Alexey Birkus als Pokerspieler und Vater des Töchterchens, Taras Diriinkas als Dolochow, der skrupellose Kumpel Anatols, Almetija Delic als Mutter Andrejs, die sich schließlich, doch zu spät, gegenüber der im Vorzimmer des Alten abservierten Natascha zu einer rührenden Bemerkung durchringt, undundund. Sie spielen irgendwann, zusammen mit dem Chor und dem Extrachor sowie dem Miniheer der Statisten, fast alles: Soldaten und Huren, französische Schauspielerinnen und Marodeure. Und als sie es besonders wild treiben – die Schauspielerinnen treiben es im wahrsten Sinn mit ihren Landsleuten: freilich mit vorgehaltener Waffe -, kracht die ganze Herrlichkeit zusammen. Moskau brennt bekanntlich, bevor eine gewaltige Projektionswand Richtung Vorderbühne fällt und mit einer gewaltigen Staubwolke krachend aufschlägt. Ein Triumph der Bühnentechnik – und des szenographischen Theaters. Denn die Virtuosität, mit der die Bühnentechnik (ein Lob an den technischen Direktor H.-Peter Gormanns und seine Leute, die diesen Ablauf in größter Virtuosität möglich machten, als sei das alles ein Kinderspiel) und die Akteure die Bilder schiebend verändern und mit einigen Wänden und Grundeelementen immer wieder neue Räume schaffen, die inhaltlich bespielt werden, ist schier beeindruckend. Nur ein Beispiel: die Franzuski müssen, das ist sehr mühselig, im letzten Bild und in Richtung Westen durch und über jene Streben krauchen und klettern, die mit dem Fall der Videowand zum Liegen kamen. So greift in dieser Dramaturgie, die im Grunde aus großen Fragmenten besteht, ein Rad in das andere.
Der ganze enorme Aufwand aber dient nur einem Zweck: eine Geschichte in Geschichten zu erzählen, die bis heute packt. Sie erreicht das Nürnberger Publikum auch deshalb, weil Prokofjews gewaltige (die Massenchöre, die Kriegsmusik) und schräge (die Ballmusik, die Musik Anatols) wie lyrische Musik (der Walzer Nataschas und Andrejs, der Fernchor der Sterbeszene, die harmonisch und instrumentatorisch subtilen Zwischentöne) von der Staatsphilharmonie Nürnberg unter der Leitung der GMD Joanna Mallwitz deliziös gemacht wird. Das Monumentale wie das Private, das Grelle wie das Vorsichtige, der delikate Farbenreichtum und die bezwingend einfache Faktur werden an diesem Abend beifallprovozierend realisiert. Der Komponist, der aus einem Porträtfoto in der Heldengalerie berühmter Russen im Haus der Achrossimowa auf uns blickt (und dem man damit eine so ironische wie verdiente Ehre zukommen lässt), wäre vermutlich begeistert gewesen: trotz (nachvollziehbarer) Kürzungen.
Joanna Mallwitz arbeitet, soviel ist auf dem Bildschirm zu Beginn der beiden Teile zu sehen, mit genauen Anweisungen. Es wäre schön, wenn auch die nächsten Spielzeiten der Intendanz Jens-Daniel Herzog im Orchestergraben, aber auch darüber, mit dieser Bildhaftigkeit und Differenzierungskunst gemacht würden. Hoffnung ist bekanntlich immer. Davon wissen ja nicht nur die leidensfähigen Russen. Letztes Wort: Ein fulminanter und bewegender Saison-Auftakt mit einer grandiosen Arbeit an einem immer noch viel zu wenig gespielten Meisterwerk.
Frank Piontek, 1.10.2018
Fotos: © Ludwig Olah