Nürnberg: „Catch Me If You Can“

Premiere: 6.9.2018

2002 waren es Leonardo Di Caprio und Tom Hanks, die Katz und Maus spielten. Nun sind es David Jakobs und Rob Pelzer, die die beiden Männer spielen, die symbiotisch miteinander verbunden waren: der Gejagte und sein Jäger. Sie sind es zum großen Vergnügen des Publikums, die den Hochstapler Frank W. Abagnale Jr. und den FBI-Agenten Carl Hanratty nicht nur spielen sehen, sondern auch singen hören.

„Catch me if you can“: das ist der Stoff des Lebens, aus dem man höchst unterhaltsame Filme, Theaterstücke, Memoiren und Musicals schmiedet. 2009 erlebte das Musical seine Uraufführung im 5th Avenue Theatre in Seattle, Washington, erst zwei Jahre später im Neil Simon Theatre am Broadway, 2013 konnten es die Wiener zum ersten Mal in ihrer Stadt sehen. Demnächst wird Terrence McNallys „Meisterklasse“ in Nürnberg gespielt, jetzt kann man schon mal seine Arbeit am Musical würdigen. Neben vielen Musicalbüchern schrieb er übrigens auch Libretti: für Robert Beasers „The food of love“ und für drei Werke Jack Heggies. Kommen hinzu einige Filmskripts, unter denen das für „Frankie und Johnny“ (1991) herausragt: mit dem charismatischen Al Pacino und der nicht minder charismatischen Michelle Pfeiffer. Dabei ging es bei „Catch me if you can“ „nur“ darum, die Autobiographie Frank W. Abagnales, diese Mischung aus Wahrheit und ein bisschen Dichtung, für die Bühne einzurichten. Es ist, bis zur Verhaftung des Mannes dem Film folgend, glänzend gelungen.

Was damals in der Huffington Post zu lesen stand, ist übertragbar auf die Nürnberger „Show“: „Catch Me If You Can is a sheer delight from the poignant and brilliant book by Terrence McNally to the sexy but character-driven choreography by Jerry Mitchell to the perfect sets by David Rockwell to the spot-on costumes by William Ivey Long to Kenneth Posner’s marvelous lighting. It’s all tied together by the superlative direction of Jack O’Brien which is seamless in weaving together drama, comedy, dance, acting, genuine scenes of pathos and casual banter with the audience and orchestra.“ Ersetzen Sie den Namen des Regisseurs durch Gil Mehmert und den des Choreographen durch Melissa King, haben Sie den Eindruck, den der Abend beim begeisterten Publikum hinterließ. Dem eher traditionalistisch eingestellten Musicalbesucher kommt übrigens die Musik deutlich entgegen. Nicht, dass er sich auch nur eine Melodie merken könnte – aber die Instrumentation und der Stil dieses Opus sind bemerkenswert unorthodox gemacht. Der „score“ klingt längst nicht so durchschnittlich wie der eines durchschnittlichen Allerweltsmusicals (mag es auch jahrelang am Broadway gespielt werden). Marc Shaiman, der in Zusammenhang mit den Filmklassikern „Harry und Sally“, „Misery“ und „Eine Frage der Ehre“ genannt werden muss, komponierte eine Musik, die der Spielzeit angemessen ist: wir hören den Big-Band-Sound der 60er, vernehmen rhythmische und harmonische Anklänge an die Musik der 50er, ein bisschen „Westside Story“ wird herbeizitiert, die „Rat Packs“ sind auch in dieser Partitur unterwegs, und fast über allem weht ein Hauch des wohnzimmerkompatiblen 60er-Jahre-Jazz. Einmal klingt sogar der Sound eines Film noir durchaus ironisch auf die Szene: wenn der FBI-Agent die „femme fatale“, also die Mutter des Helden über ihren Sohn ausquetscht, als wär’s ein Stück von Raymond Chandler. Sie machen es aber auch klasse in Nürnberg: die 12 Mann des „Frank Abagnale Junior Orchestra“. Die Trompeten, die verschiedenen Blasinstrumente namens „Reed“, die Posaunen, Drums etc. spielen unter Leitung von Jürgen Grimm so lustvoll, dass es (ziehen wir mal die bisweilen schmerzhafte Dynamik ab) selbst jenem Musicalfreund Spaß macht, der eher bei „My fair Lady“ und „Hair“ als in der Gegenwart zuhause ist. DIESE Musik aber klingt, um es mit Hans Sachs zu sagen, so alt und ist doch so neu – und umgekehrt.

Ein modernes Musical besteht, trotz leiserer Solonummern wie der der von Abagnale geliebten Brenda Strong, weniger aus tiefen Emotionen als aus gut gemachten Extrovertiertheiten. Darum muss zuallererst die Leistung der erstaunlich wenigen, daher ungeheuer fleissigen Damen und Herren der Compagnie gewürdigt werden, die fast permanent auf der Bühne tanzen: Alexandra Farkic, Inga Krischke, Tanja Schön, Yara Hassan, die entzückend hochwangige Anneke Brunekreeft, Amber-Chiara Eul und Peter Lesiak, Tim Hüning, Robert Johansson, Adrian Hochstrasser, Christian Louis-James. Melissa King hat die hübschen Stewardessen, Krankenschwestern und Showtänzer in Arrangements gestellt, die, so sexy sind sie eben, die Me-to-Debatte fröhlich in den Hintergrund drücken. Wer hier mit Ideologiekritik anrückt, indem er darauf hinweist, dass das doch alles Opas Musical ist, hat das falsche Haus besucht. Man könnte die Strategie der Durchsexualisierung sogar kritisch aufwerten. Seht her, so etwas war „damals“, als ein Frank W. Abagnale Jr. Karriere machte, der Stil der Playboy-Ära: unbenommen locker und herzhaft anzüglich. Ein Pluspunkt auch für die technische Vollkommenheit, mit der sich die Truppe in die zum Teil rasanten Choreographien begibt; das ja auch parodistisch gemeinte Ballett der Gesetzeshüter ist wahrhaft zackig. Und wenn die üblichen fünf Damen sich als Bunnies um das Duett von Vater und Sohn versammeln, um mit ihren schneeweißen Federfächern zu wedeln und die beiden einzuschließen, gibt es sogar eine Bilderfindung, die man poetisch nennen könnte. Gut grotesk ist dagegen, das ist so ein optischer Höhepunkt, der Aufzug der maskierten Doubletten der in Unigrün gekleideten Bürgerfamilie, in die der Held schließlich einheiraten will, bevor das FBI ihn auf dem Flughafen schnappt, in dem das alles reinszeniert wird.

Bleiben die „main actors“, die vor der schönen Videowand (erdacht vom „Comic Artist“ mit dem schönen nome de guerre Fufu Frauenwahl) mit den jeweiligen riesigen Fensterausblicken über eine Showtreppe oder die Drehtür die von Jens Kilian schnittig und luftig entworfene Szene betreten: als Fiktion einer TV-Show, in der der reaktionsschnelle Betrüger sich und dem Publikum, nicht zuletzt dem Jäger, sein Leben bis zu seinem 19. (!). Lebensjahr vorspielt. Wer den Film kennt, wird in David Jacobs zwar keinen wirklichen Wiedergänger erblicken, aber die Dramaturgie sorgt immer wieder für Erinnerungen an den Film; im Übrigen hat Jakobs eine ferne Ähnlichkeit mit dem jungen realen Typen aus New Rochelle. Ohne dem Musical die Dimensionen eines Shakespeare-Dramas zu verleihen, ahnen wir den tiefen Widerspruch zwischen Schein und Sein, der in dieser Figur gearbeitet hat – bis der reale Frank Abagnale vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen wurde, um als Sicherheitsspezialist bei jener Behörde zu arbeiten, die ihn zuvor verfolgt hat. Heute ist Abagnale, der ein sympathischer Bursche zu sein scheint, ein hoch angesehener Experte in Fragen der Sicherheit (aber gibt es überhaupt noch so etwas wie Schecks??). Verdienter Beifall also für den tollen David Jakobs – auch für den Kontrahenten. Rob Pelzer, ein Mann aus den Niederlanden (man hört es seiner Stimme reizvoll an), war Mozart in Wien und Passepartout in seiner augenblicklichen künstlerischen Heimat Linz. Er spielt den (erfundenen) FBI-Agenten Carl Hanratty stets nervös; dass ihm das Skript auch einige nachdenkliche Momente über seine eigenen seelischen Defizite schenkt, fällt nur wenig ins Gewicht. Und wenn er am Ende seinen buchstäblich an ihn gefesselten Gegner umarmt, weil wir das märchenhafte Ende der wahren Geschichte kennen, ist’s gar zu schön, um falsch zu sein.

Last but not least: Dirk Weiler als Papa, der sich angesichts der sozialen Pleite in den Untergang trinkt, also die einzige wirkliche Charakterrolle dieses Stücks, daneben Alexandra Farkic als französische Mama. Nein, sie machen aus diesem Musical noch kein herzbewegendes Theaterstück mit Musik, was angesichts der durchschnittlich holzschnitthaften Musical-Ästhetik in Text und Sprache nicht erwartet werden kann, aber sie zeigen mit gerade noch erlaubter emotionaler Wärme, welche Tiefen diese Geschichte aufweisen könnte, die ansonsten, für drei kurze Stunden gut unterhaltend, technisch sehr gut gemacht über die Bühne kommt.

Frank Piontek, 7.9.2018

Fotos: © Staatstheater Nürnberg / Pedro Malinowski