Steingraeber, 4.8.2022
Ob sich ein Pianist mit Bach einspielen kann?
Jein. Zumindest kann er sich die Finger langsam warm spielen und den Geist lichten, um im Anschluss ein paar „Hämmer“ der Klavierliteratur zu interpretieren; sie rein technisch in die Finger zu kriegen, ist ja „nur“ die Voraussetzung für Höheres. Und wenn der Mann, der da im Kammermusiksaal am Klavier sitzt 19 Jahre jung ist, am Ende noch eine bravouröse h-Moll-Sonate spielt, mit der er beim Franz Liszt Klavierwettbewerb Weimar-Bayreuth 2021 einen von drei Preisen, den Steingraeber Sonderpreis für die beste Interpretation eben dieser Sonate, erhielt, darf man sich schon mal wundern (auch wenn es keine „Wunderkinder“ mehr gibt).
Also spielt er Bachs Präludium und Fuge XII in b-Moll aus dem WTK, als wär‘s ein lyrisches Stück von Edvard Grieg. Romantisierung, so nennt man das, es ist eine mögliche Art, Bach zu spielen. In sehr gewisser Weise harmoniert dazu der Beginn von Beethovens A-Dur-Sonate op. 101: eine sanfte aufsteigende Melodie – doch hier liegen die wahren Tücken für den Musiker. Sie sind nicht technischer, sondern interpretatorischer Art. Joachim Kaiser hat sich in seiner umfangreichen Spiel-Analyse dieser Sonate in seinem Opus Magnum über Beethovens Klaviersonaten über die Frage geäußert, inwiefern an einer bestimmten Stelle der Mittelweg einer möglichen Interpretation so gut wie nicht gut sein könne. Lund entschließt sich – dies zumindest mein Höreindruck – über weite Strecken der Introduktion für eine bewusste Schlichtheit, oder, um es mit einem Wort Carlos Kleibers zu sagen: Er spielt allein das, was in den Noten steht. Positiv ausgedrückt: er tut nicht so, als sei in der lyrischen, synkopengrundierten Melodie schon die Schwierigkeit vorhanden, die der weitere Verlauf des Kopfsatzes mit sich bringt, auch wenn er die Anweisung „Etwas lebhaft und mit der innigsten Empfindung“ durchdacht hat. Und gegen die Boogie-Anklänge im zweiten (der das Publikum zu einem, nun ja, blöden Zwischenapplaus provoziert, aber woher sollen sie auch wissen, dass das Stück hier noch nicht zuende ist, wenn‘s nicht auf dem Programmzettel steht?) und die lyrische Zukunftsmusik des dritten Satzes (Kaiser: „So hat nach Beethoven niemand mehr komponieren können“), ist schon gar nichts zu sagen, noch weniger gegen die Fugen-Exzesse des Schlusssatzes, die sich der junge Musiker mit höchster Sicherheit angeeignet hat.
Dann aber Skrjabin! Bei der 5. Sonate scheint sich Lund ganz zuhaus zu fühlen; schon die Einleitung mit ihren wahnwitzigen, blitzschnellen Impetuoso-Schlägen kommt mit der Sicherheit einer Maschine daher, ohne dass der kommenden kühlen Lyrik des Werks etwas abgeschnitten würde. Skrjabin ist gewiss „leichter“ als Beethoven, soweit es die rein musikalische Deutung betrifft, aber auch er macht Spaß, wo es gilt, die Farben und die dissonanten Schönheiten in eine Linie einzubinden. Chapeau! Chapeau auch für die Interpretaton von Chopins 4. Scherzo op. 54, das Lund in einer schlicht und einfach makellosen wie spannungsvollen Interpretation vorlegt, in der er sich ganz auf die Heiterkeit des Rahmens wie die Melancholie des Trios einlässt – meisterhaft gespielt wie Carl Nielsens Chaconne op. 32, eine seltene Begegnung mit einem Werk des überregional bekannten Landsmannes des Pianisten. Schließlich Liszt – die h-Moll-Sonate knüpft in dieser Deutung auf ihre Weise an den Beginn des Konzertabends an. Lund betont die Extreme, indem er das auffahrend Heftige, die Explosionspunkte der Leidenschaft dezidiert stark und die lyrischen Inseln ausgesprochen lyrisch bringt. Die Kontraste der Zerrissenheit, die Liszt seinem Thema abgewann, werden in das Licht der tiefsten Romantik getaucht – und rein spielerisch ist’s eh so beifallprovozierend, dass es für zwei Zugaben reichte. Also wieder eine Gelegenheit, das Werk eines ukrainischen Komponisten zu hören: Nikolai Kapustins Konzertetüde op. 40/1 von 1984 ist purer konzertanter Jazz. Nochmal: Chapeau.
Frank Piontek, 5.8.2022
Foto: ©Rune Leicht Lund