Markgräfliches Opernhaus (Steingraeber & Söhne), 24.7.2021
Samthand und Löwenpranke
Was ist „Interpretation“? Interpretation bedeutet, sehr nah am Notentext und doch – vielleicht nur scheinbar – frei im Ausdruck zu sein, um den Eindruck zu erwecken, dass all das, was unter den Fingern gespielt wird, im Moment entsteht.
Beethovens letzte drei Sonaten op. 109-111 werden gern im Zyklus gespielt, wozu schon die Beobachtung berechtigt, dass Beethoven hier Prinzipien verwirklichte, die ein Ineinander von Tradition und Moderne anzeigen – ganz abgesehen von den Intervall-Verhältnissen, die es erlauben, im Zeichen der Terz zwischen den drei verschiedenen, je besonderen Stücken eine Verbindung zu sehen, die kaum zufällig sein dürfte. Tradition: das meint in diesem Fall keine Rückwendung zu den sog. Wiener Klassikern, deren Stilmittel sich noch mehr oder weniger auf ein Barock-Erbe bezogen, wie es dem ausklingenden Feudalzeitalter noch mit letzten Resten eingeschrieben war; dass das Konzert im feudalen Opernhaus stattfand, also einer auf extreme Form-Symmetrie ausgerichten Architektur, bietet zu Beethovens späten konventionslosen Experimenten nur insofern einen Widerspruch, als dass man nicht bemerkt, dass es möglicherweise auch die expressionistische Tonsprache eines Carl Philipp Emanuel Bach war, der Beethoven noch in seinen späten Jahren inspitierte: eines Bachsohns, der allererste Erfolge feierte, als das Opernhaus errichtet wurde. Elisabeth Leonskaja weiss nun zwar, dass der „alte“ Beethoven ein jüngerer Wilder war als manch Zeitgenosse, derr weit nach 1770 geboren wurde – man hört‘s, wenn sie das Prestissimo der E-Dur-Sonate op. 109 gleichsam mit der Löwenpranke spielt. Ansonsten bevorzugt sie die Samthand, denn die Grande Dame der Klavierkunst muss weder sich noch ihrem Publikum beweisen, dass sie einen exklusiven, besonders ätherischen, besonders markanten Zugang zu Beethoven hat. Sie spielt das Cantabile des dritten Satzes „mit innigster Empfindung“, aber doch so schlicht-schön und unmaniriert, dass sie auf Gespreiztheiten und Bedeutungshubereien á la Sokolow souverän verzichten kann. Selbst das Bizarre (die Sonate op. 110 ist dafür das beste Beispiel) kommt mit nonchalanter Selbst-Verständlichkeit, ohne dass es den Schein des Aussergewöhnlichen und Überraschenden verlieren würde. Selbst der berühmte Boogie-Woogie der Sonate op. 11, der oft wie eine Einlage im Stil des 20. Jahrhunderts wirkt, wird von der Leonskaja organisch entwickelt, mit anderen Worten: Sie spielt, wie der Genauigkeitsfanatiker Carlos Kleiber einmal sagte, „nur das, was in den Noten steht“. Sie ist eine Meisterin darin, die Charaktere des Variationssatzes in op. 109 großartig darzustellen, integriert das (scheinbar) Nichtzusammenhängende, die bachhafte Fuge und das Improvisatorische – betörend ist schon der gleichsam romantische Ton, mit dem der Zyklus bei ihr beginnt, bevor die italienischen Anklänge der Fuge der mittleren Sonate die Tür zu einem Raum öffnen, der selbst im ungewöhnlichen Spätwerk des Komponisten wie etwas ganz Anderes anmutet. Hätte das Publikum nach den 70 erfüllten Minuten selbst Musik machen können, hätte es den Dank vielleicht mit der ersten Variation des Gesangssatzes aus op. 109 abgestattet – denn auch den hatte die Leonskaja molto espressivo gespielt, ohne ihn interpretatorisch zu überdehnen.
Frank Piontek, 25.7.2021
Foto: ©Andreas Harbach