Bayreuth: „Pastorelle En Musique“, Georg Philipp Telemann

Sie ist schon ein Zauberkasten, diese Barockoper. Der Blick auf Telemanns Pastorelle en musique macht‘s schon deshalb klar, weil mit dieser Produktion, die die Musica Bayreuth glanzvoll abschloss, zum zweiten Mal eine Produktion der Musikfestspiele Potsdam Sanssouci mit dem Ensemble 1700 ins Markgräfliche Opernhaus kam. Wo die Musiker unter der Leitung Dorothee Oberlingers aufspielen, ist schon das akustische Vergnügen vorprogrammiert; wo sich die Regie, in diesem Fall Niels Niemann, zusammen mit der Ausstattung, also Johannes Ritter, aufs Historisierende verlässt, ist das optische Vergnügen eine Selbstverständlichkeit.

Es sind mehrere Szenen, die dem Zuschauer im Opernhaus den Eindruck geben, dass die magische Welt eines höfisch stilisierten Arkadien zwar einerseits fern, aber gleichzeitig unendlich nah ist: wenn Gott Amor, über der Szene schwebend, eine zarte Schlummermusik mit einer Flaute dolce begleitet (Max Volbers), wenn sich ein Geiger als höchst eleganter Tänzer und ein Tänzer als höchst virtuoser Geiger entpuppt (der Tanzmeister Yves Ytier ist ein Mann von vielen Talenten), wenn zu Beginn eines „Dormir“-Chors kleine Zwitschervögel aus den Gassen herausfliegen – und wenn am Ende, natürlich, die Liebe alle Paare regiert, sogar den Eigenbrötler mit dem sprechenden Namen „Knirfix“, dem der Regisseur im Schlusschor seine Belinda, Phyllis oder Dafne (oder wie die Dame sonst heißen mag) zu harmlosen amourösen Freunden schickt. Das warme Licht, das aus den Muscheln vom Bühnenboden nach oben sanft abstrahlt, fasst nur ein Bild zusammen, das eh schon golden ist, mögen die ewig gültgen Liebeskonflikte auch nicht von gestern sein und nur vom Gott des Barocktheaters gelöst werden.

Die Pastorelle ist ein Glücksfall, weil mit dem Fund, der erst vor wenigen Jahren gemacht wurde, die neunte von einstmals 50 kompletten Opernpartituren des Meisters der frühen Deutschen Oper bewahrt wurde. Es ist dies ein vollkommenes Stück: nicht nur deshalb, weil es von Telemann komponiert wurde, sondern weil es Eigenheiten besitzt, die selbst im Werk des Meisters der Ungewöhnlichkeiten ungewöhnlich sind. Denn Telemann schrieb sein Hirtenstück auf der Grundlage einer französischen Vorlage, die von Lully und Molière komponiert worden war. Der Deutsche schrieb also einige Vokalstücke auf Texte des großen französischen Theaterdichters – eine Einmaligkeit der deutschen Barockoper. Da es sich um Stücke von Telemann handelt, hören wir zugleich die unverwechselbar lebendige Tonsprache dieses Meisters und zugleich echt französische Töne aus der Epoche Louis XIV., was tief hineinführt in die Dramaturgie des Spiels. Immer dann, wenn Damon, der zunächst von Caliste abgewiesen wird, seinen Liebeskummer zum Singen bringt, tut er‘s in den tief empfindsamen Tönen des höfischen Barock à la francaise – es ist, wie gesagt, schlicht zauberhaft. Es ist schon deshalb magisch, weil mit Florian Götz und Lydia Teuscher ein Paar auf der Bühne steht, das am Ende einfach zusammen kommen muss.

Klingt das Schmachten im 6/8-Takt wie ein langsamer Walzer, so hört man noch mehr aufs Ensemble 1700 als man‘s eh schon tut. Die Musiker pflegen unter Dorothee Oberlinger einen so entspannten wie gezügelten Stil. Zwischen dem ersten Satz des auftrumpfenden Concerto mit seinen Pauken und Trompeten – eigentlich einer Suite – und dem langsamen, mit dem Lautenisten Axel Wolf als medidativem Mittelpunkt, spannt sich eine Welt auf, die für die gesamten Kontraste der Pastorelle typisch sind. Hier die auftrumpfende Arie des glücklichen Amanten Amyntas: „Rufe Triumph!“, dort ein bezaubernder Freiheits-Chor der beiden Heldinnen des Stücks und vierer Damen, deren Stimmen sich lange zärtlich umschlingen. Hier die knörzige Komik des Weintrinkers und Zynikers Knirfix (sein Instrument ist nicht die Viola, sondern das Fagott), dort Calistes empfindsame Sopran-Arie mit Solo-Oboe.

Die Stimmen passen sich den Emotionen an: Lydia Teuscher ist eine Caliste mit hohem, klarem Sopran, der dem Freiheitswillen wie der Sanftmut (denn Liebe realisiert sich hier auch im zärtlichen Mitleid für den unglücklich Liebenden) Ausdruck gibt, Marie Lys eine lustig-ratlose Iris mit wohlklingendem Ton, Alois Mühlbacher ein prachtvoller, aber nicht präpotenter Amyntas, denn sein Sopran spielt reizvoll mit den Geschlechterklischees der Barockoper: Er sieht aus wie ein junger taubenblauer Kurfürst – die Pastorelle entstand übrigens in der Zeit, da Max Emanuel bayerischer Kurfürst war -, gleichzeitig aber wie eine Frau, die eine Männerrolle spielt. Würde er nicht einmal einen deutlichen Bassbrummton von sich geben: man würde den Unterschied nicht bemerken. Florian Götz singt den liebesschmachtenden Damon mit einem Bariton, dessen Sinnlichkeit aus einer warmen Tiefe kommt. Schließlich Virgil Hartinger, der den komischen Außenseiter mit einigen Einwürfen und Arietten baritonal adelt. Nicht zu vergessen die Ensemblemitglieder des Vokal Consort Berlin, die den Reigen der Schäfer und Schäferinnen nicht allein, aber auch dekorativ erweitern.

Denn Dekoration im Sinne von Dekor, Gestus, Tanzschritt ist hier viel. Erklingt in Amyntas‘ Triumph-Arie die Musik im auftrumpfenden forte, so sehen wir keinen plebejischen Hirten, sondern einen Adligen. Damon ist so viel Hirte wie er wohlerzogener Höfling höheren Grades ist. Im ästhetischen Arkadien weiß man, wie man im Kontrapost von Stand- und Spielbein zu stehen, kreuzbeinig zu sitzen und sich zu gruppieren hat, als hätte man die Gesten-und Choreographie-Aufzeichnungen des 17. und 18. Jahrhunderts studiert (der Regisseur hat‘s). Was herauskam, war kein lebendiges Museum, sondern lebendiges Theater: nicht allein, aber auch aufgrund einer Musik, die zum Beweglichsten gehört, was das ausgehende Barock zu bieten hat. Also: eine vollkommene Produktion für die Zauberkiste Markgräfliches Opernhaus.

Fotos: ©Stefan Gloede

Frank Piontek, 9.7.2021