Nun ist es zuende gegangen – und es ging gut zuende: mit Vivica Genaux, die zusammen mit der Lauttencompagney einen Abend mit Arien aus Opern des Großmeisters der Opera seria, also Johann Adolf Hasse, veranstaltete, und mit der konzertanten Aufführung der Gismonda des Leonardo Vinci: wieder mit dem regieführenden, singenden und intendanzierenden Tausendsassa Max Emanuel Cencic im Ensemble – und wieder auf dem Niveau, das erstklassige Festivals auszuzeichnen pflegt.
Im Konzert der Festivals, die jener Musik gewidmet werden, die man einstmals als „Alte Musik“ zu bezeichnen pflegte, saß Bayreuth schon im ersten Jahr des Bayreuth Baroque am Pult der ersten Geigen. Die Idee, im einzigartigen Markgräflichen Opernhaus die Musik der Epoche aufzuführen, der das Haus seinen Stil verdankt, ist nicht neu, aber sie ist naheliegend, doch ist sie auf diesem Niveau nicht selbstverständlich – früher kamen hier auch mal Die Fledermaus oder Tosca auf die Bühne. Spielt man jedoch die Musik einer Epoche, die weit vor 1875 oder 1900 liegt, wird erst klar, dass es etwas Jüngeres wie die Musik eines Hasse oder Porpora an diesem Ort nicht geben kann, denn längst schon klingen die Noten von 1730 oder 1760 hier so, als wären sie für uns geschrieben worden. Auf den Punkt gebracht: Musik, die heute gespielt und so lebendig gespielt wird, ist immer von heute. Kein Wunder, dass das Publikum aus Frankreich, Italien und wohl auch etlichen anderen Ländern nach Bayreuth reiste, um im einzigartigen, von der UNESCO als Welterbe anerkannten Ausnahmehaus und in den anderen Aufführungsstätten die Opern und Arien, Minidramen und Instrumentalkonzerte auf höchstem interpretatorischen Niveau zu genießen. Nebenbei: auch für den Fremdenverkehr ist das Bayreuth Baroque, kurz nach den anderen Bayreuther Festspielen, eine gute Sache. Das im Stadtrat von zwei Parteien vorgebrachte Argument, dass das Festival erst einmal nur ein Jahr gefördert werden sollte, weil „die Bayreuther nicht die Zielgruppe“ seien, ist so kulturfremd wie politisch kurzsichtig, weil es sich einem primitiven Reflex verdankt, der die Hochkultur, der wir die schönsten Kunstwerke und gelegentlich die tiefsten Emotionen verdanken, schlicht und einfach für überflüssig hält. Dass das Bayreuther Opernhaus schon zu seiner Erbauungszeit nicht für „die Bayreuther“ offen war, ist zwar kein Argument, hilft aber ein wenig beim Nachdenken über die Frage, wozu das singuläre Haus logischerweise genutzt werden sollte – ein Freund der Barockmusik, die übrigens längst bei den Opernfreunden angekommen ist und nicht mehr im Verdacht steht, abartig speziell zu sein, wird allerdings beste Gründe haben, um das neue Festival zu besuchen. Wie gesagt: Man kommt von weither nach Bayreuth. Bei den Wagnerfestspielen verhält es sich ja nicht anders, denn auch in deren Aufführungen sind bekanntlich nur wenige Bayreuther anwesend. Warum sollten „die Bayreuther“ auch ein engeres Verhältnis zu Wagner haben als, beispielsweise, die Berliner oder Wiener? Und doch wird das Haus so genutzt, dass es auch „den Bayreuthern“ etwas nutzt, wenn man denn in den Kategorien des Marketing argumentieren will.
Glücklicherweise gab es also im Stadtrat, nicht zuletzt dank der Trommelarbeit des amtierenden Kulturreferenten, eine Mehrheit für die Finanzierung und coronabedingte Aufstockung des Budgets auf drei Jahre hinaus. Alles andere wäre dumm gewesen, denn ein Barocktheater dieser außerordentlichen Qualität und historischen Wertigkeit muss einfach adäquat bespielt werden: mit Stücken und Aufführungen, die nicht nur musikhistorisches Interesse beanspruchen, sondern auch – und das ist die Hauptsache – vielen Leuten viel Freude machen, weil sie bemerken, dass die Musik und die aus Machtgier und Eifersucht, Liebe und Hass, Verwerfung und Versöhnung bestehende Handlung von manch Oper, wenn man sie gut ins Heute bringt, nicht von gestern ist. Die quicklebendige Inszenierung von Porporas Carlo il Calvo hat es schlagend bewiesen – nicht weniger die Stille während der lyrischen „Nummern“, in der man die berühmte Stecknadel hätte fallen hören können. Musikwissenschaftlern mag es genügen, Partituren zu lesen und die dürren Noten für das „Werk“ zu halten – die Musik- und gerade die Opernfreunde wissen es besser: Erst in der Aufführung wird ein Werk zum Werk. Erst in dem Moment, in dem die Schallwelle in unsere Ohren dringt und die Persönlichkeit der Künstler uns berührt, realisiert sich eine Oper, eine Sonate, eine Arie. Und in dem Augenblick, in dem zu barocken Rhythmen Charleston getanzt wird, dürfte selbst der verstockteste Barockhasser davon überzeugt werden, dass das Barock, zumindest für die Upper class, auch musikalisch eine sehr lustvolle Epoche war. Wie schön, dass heute auch der „gemeine Mann“, wenn er denn will, daran partizipieren kann.
Nebenbei: Dass heute wesentlich mehr als ein paar wenige Opern von Händel und gelegentlichst ein oder zwei Opern von Monteverdi aufgeführt werden und die guten Namen von Cesti, Rossi, Porpora und Hasse nicht nur in mehrbändigen Musiklexika, sondern auch auf den Programmzetteln zu finden sind, ist nicht allein aus wissenschaftlichen Gründen wertvoll. Denn – man kann es nicht oft genug wiederholen – eine Musik, die man nur lesen, aber nicht hören kann, ist schlichtweg nicht vorhanden. Auch darum ist das Festival Bayreuth Baroque mit seinen inhaltlich und musikalisch exzellenten Programmen und seinen hinreißenden Künstlern so wertvoll. Erst recht am einzigartigen Ort des Opernhauses, das die Musik so dringend benötigt, um seine wirkliche Bedeutung zu enthüllen – und, wie man seit der Wiedereröffnung gesehen hat, wesentlich mehr Gäste als Stadtbewohner anzuziehen vermag. Gut also, dass Max Emanuel Cencic und der Geschäftsführer des Festivals, Clemens Lukas, in Nachfolge der alten Musica Bayreuth weit über den Bayreuther Wursttellerrand hinausgeschaut haben und dem Haus als zentralem Spielort nach der Restaurierung den Champagnerglanz wiedergegeben haben, der zwischen der Epoche der Markgrafen von 1750 und der Moderne zwanglos vermittelt.
Der begeisterte Beifall war jedenfalls stets gewaltig. Übrigens auch jener der Bayreuther, die man, wenn auch selten, im Opernhaus und den anderen Spielstätten erblicken konnte.
Frank Piontek, 14.9.2020