Fortsetzung der Antworten auf Corona
Ein Tisch als Waagschale zwischen Miriam Kacerova und Roman Novitzky in „Aedis“ von Alessandro Giaquinto. Foto: Stuttgarter Ballett
30.10. 2020 (Premiere)
Mit tief bewegter Stimme begrüßte Intendant Tamas Detrich das im Schauspielhaus auf zwangsweise nicht einmal zweihundert Plätze reduzierte Publikum, brachte einerseits das Glück, diese Premiere sowie je 2 Doppelvorstellungen am Wochenende vor der erneuten Schließung des Kulturbetriebes noch bestreiten zu können, zum Ausdruck, als auch die unverhohlene Kritik an der seitens der Politik als lockdown light bezeichneten Maßnahme, die aber für alle Kunstschaffenden in Wahrheit ein lockdown hard bedeute.
Was an dieser Stelle ohne Corona im Rahmen der Jubiläumsspielzeit des Stuttgarter Balletts (60 Jahre) wohl auf dem Spielplan gestanden hätte, darf sich der Ballettfreund besser gar nicht erst ausmalen, und muss wie die Tänzer selbst mit dem zufrieden sein, was unter diesen Umständen machbar ist. Hauptsache, sie können tanzen, nicht nur probeweise, sondern auch vor Zuschauern. Und so durften an der Choreographie interessierte TänzerInnen der Compagnie ihrer Phantasie freien Lauf lassen und sich mit den Umständen und Folgen der Virus-Pandemie beschäftigen.
Gruppentänzer Alessandro Giaquinto schickt in dem seiner italienischen Heimat gewidmeten „AEDIS“ 4 TänzerInnen in schwarzen Hosen und freien Oberkörpern zu zuerst groovend widerhallender und von lautem Atem begleiteter, dann sanft klagender geistlicher Musik auf einen sich in aggressiver Entäußerung entladenden Kurs. Dabei zeigt er, auf verschiedene Lichtquadrate verteilt, dass nicht nur Singles wie der körperlich immer mehr Profil gewinnende Timoor Afshar oder die erstmals so hervorstechend solistisch eingesetzte Anouk van der Weijde einen Kampf mit sich selbst austragen. Auch die in Wirklichkeit ein Paar bildenden Ersten Solisten Miriam Kacerova und Roman Novitzky müssen sich im täglichen Miteinander zuhause beweisen – ein Tisch wird hier zur wechselnd ausschlagenden Waagschale. Giaquinto ist wohl stilistisch noch auf der Suche, vermag aber seine Interpreten deutlich als Ausdruckträger einzusetzen.
Die schon mehrfach choreographisch erfolgreiche Gruppentänzerin Aurora De Mori konzentriert sich in „ALIUNDE LEVI“ auf eine Tänzerin, die zu Beginn wie ein Schatten vor blauem Hintergrund erscheint und sich dann in Naturstimmungskulisse in ihrer Einsamkeit ergeht. Traditionelle Trommel- und Flötenmusik bildet die dynamisch abwechslungsreiche Basis für den Versuch der in der Verbindung von Stärke und Angreifbarkeit wieder einmal sehr für sich einnehmenden Hyo-Jung Kang eine Balance zu halten und dann doch wieder an Fassung zu verlieren. Am Ende signalisiert eine Lichtschneise mit Nebel im Hintergrund einen kleinen Hoffnungsschimmer, dass wieder bessere Zeiten unter normalen Bedingungen kommen werden.
Formell geschlossen präsentiert sich Vittoria Girelli als Tanzschöpferin in „CHRYSALIS“, wo vier TänzerInnen ihrer Isolation in etwas ausartenden Bewegungsmustern ihren Gefühle im Umgang mit der Corona-Situation freien Lauf lassen. Zuerst zu Popularmusik („For Ever and Ever and Ever Alone“), dann zu klassischen Klängen (Schubert D.821) hat jeder der vier Solisten in eindrucksvoll farb-mäandernden Pluderhosen Gelegenheit auf sich aufmerksam zu machen. Elisa Ghisalberti muss sich als solistisch noch wenig erfahrene Künstlerin vor allem gegen den charakterstarken Fabio Adorisio und den athletisch ausdrucksvollen Matteo Miccini behaupten, während Flemming Puthenpurayil als weicherer Typ mehr auf ihrer Wellenlänge liegt.
Viel Symbolkraft hat Solistin Agnes Su in „RESONANZ“ gelegt, vor hohen Lichtschneisen hängt mitten auf der Bühne eine einsame nackte Glühbirne, die erst später brennen wird, wenn die vier TänzerInnen bäuchlings balancierend ihre Hände nach dem Lichtstrahl ausstrecken. Im ersten Teil ist die Choreographie, angetrieben von elektronisch verstärkten Klapper-Geräuschen (Clapping Music von Steve Reich) von mechanisch abspulenden, wie abgezirkelt geometrischen Linien bestimmt. Zu einem harmonisch beeindruckenden Hymnus für Celli von Julius Klengel lösen sich die Schrittfolgen in natürliche Raster auf, Rocio Aleman, Daiana Ruiz, Clemens Fröhlich und Christian Pforr bilden in beige bis ocker gehaltenen Kostümen ein rhythmisch auffallend gut abgestimmtes Ensemble, aus dem sich keiner vorpreschend abhebt, aber trotzdem jeder sein eigen Ding macht.
Bizarr inspiriert: Angelina Zuccarini und Louis Stiens in „Mehlberg“ von Shaked Heller. Foto: Stuttgarter Ballett
Von Shaked Heller war nach seinen hervorstechenden bisherigen Arbeiten auch jetzt wieder etwas Besonderes, aus dem Mainstream Ausbrechendes zu erwarten. Der Gruppentänzer aus Israel lässt in einem bunkerartigen Aufbau mit einer beidseitigen Flucht von Durchgängen in farblosen einteiligen Kurzhosen-Kleidern drei Gestalten in mehreren, von Vivaldi und Rameau-Musik inspiriert angestachelten Abschnitten auf bizarre, sehr eigenständige Weise eine Strategie gegen die Folgen einer Pandemie ausleben. Elisa Badenes, Angelina Zuccarini und der ideell besonders gut zu Hellers Stil passende Louis Stiens faszinieren in ihrer breit aufgestellten Anverwandlung unterschiedlichster Aufgaben auch über so manches Fragwürdige hinaus, das letztlich auch für die Bezeichnung dieser Schöpfung mit „MEHLBERG“ gilt. Ein Beispiel, wo Tanzkunst dank besonderer Interpreten auch jenseits von Nachvollziehbarkeit funktioniert.
Spürbar erfüllt vom Glück in diesen Zeiten überhaupt so etwas sehen zu können, fiel der Applaus für alle fünf Beiträge überaus großzügig und unterstützt von viel Begeisterung für alle Beteiligten aus.
Udo Klebes, 5.11.2020
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