Bericht von der Premiere am 14. September 2019
Solide Aktualisierung mit politisch korrekter Imprägnierung
Sie haben tatsächlich nach der Ouvertüre gebuht! Dabei gab es auf einer Leinwand vor der Bühne in Filmsequenzen zum Orchestervorspiel nur das zu sehen, was später der Torero Escamillo und eine begeisterte Menge besingen werden: In einer Arena wird ein Stier mit Spießen traktiert und blutig zu Tode gebracht. Was ist daran provokativ? Was so unpassend, daß man in einen Schlußakkord hineinbuhen muß? Ist es tatsächlich eine Zumutung, mit der Brutalität eines Stierkampfes konfrontiert zu werden? Wenn der Unmut der Widerwärtigkeit dieser Tierquälerei gegolten haben sollte, dann hat das Premierenpublikum ihn zum falschen Zeitpunkt und am falschen Ort geäußert. Wie heißt es später im Text des Librettos, der zu dem überpopulären Marsch „Auf in den Kampf, Torero“ schmissig und lustvoll gesungen wird: „Durch den Zwinger bricht heraus der Stier mit Allgewalt. Er stürzt vor, treibt in die Enge. Ein stolzes Ross – es fällt – begräbt den Picador. Wütend rennt der Stier im Kreise umher, Kopf hoch empor. Die wucht’gen Hörner wild er senket. Es fließet rings das Blut – er brüllet fürchterlich.“
Und zum Finale beschreibt die Menge singend den gerade stattfindenden Kampf: „Viva! Viva! ach, wie so herrlich! In dem blutgen Sand wie gefährlich, rennt der Stier dem Kämpfer entgegen. Seht da, wie Escamillo zieht seinen Degen – Wie das Tier gereizt auf ihn springt – Ob der Stoss ihm glücklich gelingt? Seht da, seht da, Victoria!"
Vielleicht hat dem Publikum das beim Betrachten der Texte dann doch gedämmert, vielleicht ist es aber auch nur von der ansonsten gefälligen Inszenierung versöhnt worden. Jedenfalls gibt es beim Schlußapplaus zum Auftritt des Inszenierungsteams keine Unmutsbekundungen mehr.
Lena Belkina (Carmen) und Sébastien Guèze (Don José)
Dieser Auftakt jedenfalls ist vielversprechend. Mit dem Ende der Ouvertüre wird die Leinwand transparent und gewährt einen ersten Blick auf das Bühnenbild: eine leere, etwas ramponierte Stierkampfarena. Einsam kniet in ihrer Mitte ein Mann. Es ist, wie sich später herausstellen wird, der männliche Protagonist Don José. In seinen Händen hält er in einer Trauergeste ein typisch spanisches Kleid im Flamenco-Stil. So wirft die Regie einen Blick auf den Schluß der Oper, in welchem Bizet den Stierkampf in der Arena mit der tödlich endenden Auseinandersetzung zwischen Carmen und ihrem enttäuschten Liebhaber davor in einer Parallelmontage ablaufen läßt. Das ist ein starkes, ein verheißungsvolles Bild.
In der Mitte der Arena befindet sich ein wandschrankartiges Bühnenelement, welches im Verlauf der Inszenierung durch Drehungen und Verschiebungen das Bühnenrund gliedert, für Gruppen- und Einzelauftritten in geschicktem Variantenreichtum genutzt wird, im Tavernen-Akt als Rückfront einer Bar dient und im Schmuggler-Akt, der ja im Gebirge spielt, auch erklettert werden kann. Auf seine Fläche ist die Parole gesprüht: „Toros si – corridas no“ – Stiere ja, Stierkämpfe nein. Das „no“ ist jedoch in anderer Farbe durchgestrichen und durch ein „si“ konterkariert worden. Ein Statement des Inszenierungsteams und ein Hinweis darauf, daß im Spanien der Gegenwart die Stierkampftradition kontrovers diskutiert wird. Und daß diese Carmen in der Gegenwart spielt, daran lassen die Kostüme keinen Zweifel, die auf pseudo-spanischen Folklorekitsch verzichten.
In dem so abgesteckten Rahmen erzählt Regisseur Laufenberg die Geschichte exakt am Libretto entlang. Nach der starken Exposition wirkt das alles sehr konventionell, so als habe der inszenierende Intendant insbesondere die Repertoire-Eignung der Produktion im Blick gehabt.
Einem Dilemma moderner Carmen-Inszenierungen entgeht aber auch Laufenberg nicht: Natürlich kann man heute nicht mehr die nachträglich von fremder Hand hinzugefügten Rezitative aufführen. Natürlich muß ein Regisseur, der dramaturgisch auf der Höhe der Zeit ist, den Charakter des Stückes als Opéra comique beachten, also die Ursprungsfassung mit gesprochenen Dialogen verwenden. Gerade diese löbliche musikhistorische Korrektheit führt zu einem doppelten Problem: Der französische Text wird nicht selten von nichtfrancophonen Sängern mehr schlecht als recht deklamiert und von einem deutschen Publikum nur verstanden, wenn es mit den Augen auf den Übertiteln klebt, statt dem Bühnengeschehen zu folgen. Ohne Musikuntermalung können sich diese Sprechszenen ziehen wie Kaugummi. Für das Elend der Dialoge findet die Wiesbadener Produktion keine erfrischende Lösung, und so nimmt man sie als notwendiges Übel hin.
Lena Belkina (Carmen)
Daß das Premierenpublikum sich am Ende zufrieden zeigt, liegt nicht zuletzt an der gediegenen musikalischen Qualität des Abends. Mit Lena Belkina hat man für die Titelpartie eine rollenerfahrene Sängerin engagiert, deren dunkel abgetönter Mezzosopran mit satter Tiefe, samtiger Mittellage und ungefährdeter Höhe punkten kann. Sie serviert die Wunschkonzertarien tadellos und übertreibt es mit der Beimischung von rollenadäquaten ordinären Untertönen nicht. Sébastien Guèze interpretiert den Don José mit einem eher hell timbrierten Tenor mit hohem Anteil der Kopfstimme. Beeindrucken kann er immer dann, wenn er druckvoll aussingen kann. Wenn er aber die Lautstärke zurücknimmt, klingt die Stimme ein wenig matt und glanzlos. Dann offenbart sich, daß insbesondere die Mittellage zu wenig im Körper verankert ist und zu stark auf die Kopfresonanz setzt. So wird er im ersten gemeinsamen Auftritt mit Sumi Hwang als Micaëla von dieser regelrecht an die Wand gesungen. Die zierliche Sängerin verfügt über eine jugendlich-frische Stimme, die sie wunderbar strömen lassen kann. Erstaunlich ist das Volumen, über das sie verfügt. Ohne schrill oder unangenehm zu werden, kann sie eine Lautstärke entwickeln, die weitaus größere Häuser mühelos füllen würde. Sie ist damit der gar nicht heimliche Star der Aufführung. Ihre Arie im dritten Akt erhält den einzigen enthusiastischen Szenenapplaus des Abends.
Sébastien Guèze (Don José) und Sumi Hwang als Micaëla
Einen schlechten Tag erwischt hat offenbar Christopher Bolduc, für den die Partie des Escamillo obendrein zu tief liegt. In seiner Auftrittsarie geht mancher Ton im Orchesterklang unter. Obwohl er sich im Verlaufe der Aufführung steigern kann, klingt die Stimme oft angestrengt. Wer den jungen Sänger in den zurückliegenden Spielzeiten in anderen Partien erlebt hat, weiß aber, daß er über einen attraktiven, jugendlich-kernigen Bariton verfügt.
Generalmusikdirektor Patrick Lange läßt sein Orchester vollmundig und kräftig musizieren. Das macht durchaus Eindruck. Ein wenig geht dabei aber das Parfüm dieser Partitur verloren. Den leiseren, lyrischen Passagen fehlt es an Duftigkeit und Atmosphäre. Der von Albert Horne gut präparierte Chor trumpft immer wieder klangmächtig auf.
Insgesamt kann man sagen, daß am Staatstheater Wiesbaden die Carmen nicht neu erfunden wurde. Die Produktion hat eine für den Repertoirealltag taugliche, modernisierte Version der Geschichte handwerklich solide erstellt und sie mit angemessener Kritik an der fragwürdigen Tradition des Stierkampfes politisch korrekt imprägniert, ohne sie agitatorisch zu überfrachten.
Michael Demel, 15. September 2019
© Bilder: Karl und Monika Forster