Unsäglich widrig waren die Umstände des Zustandekommens dieser Inszenierung (der Regisseur Kirill Serebrennikov sitzt seit August 2017 in seiner Moskauer Wohnung unter strengem Hausarrest, Näheres zu den Hintergründen gibt es hier, beglückend, erfrischend unverfroren, intelligent beobachtet und auf die Jetztzeit kongenial adaptiert hingegen das Resultat: Mozarts COSÌ FAN TUTTE wurde im Opernhaus Zürich zu einer zu Recht bejubelten Angelegenheit. Kirill Serebrennikov hat aus der Ferne (seine Intentionen setzte in Zürich der Regisseur und Choreograf Evgeny Kulagin um) das Stück einer genauen Analyse unterzogen, die jungen Leute, an denen Don Alfonsos grausames Experiment der erotischen Verführbarkeit vollzogen wird ins Hier und Jetzt gestellt – und es funktioniert wunderbar, genauso überzeugend wie Serebrennikovs Inszenierung von Rossinis BARBIERE an der Komischen Oper Berlin vor zwei Jahren. Hier wie dort wird die Generation der erfolgreichen Social Media Jerks aufs Korn genommen, junge Leute die ihre Finger nicht vom Smartphone lassen können, alles und jedes wird gleich gepostet, jede noch so banale oder dramatische Situation mit einem (geschmacklosen) Selfie dokumentiert.
Dabei verfährt der Regisseur jedoch um einiges zurückhaltender als im BARBIERE, der Chatverlauf wird nur einmal kurz eingeblendet. Kurzweilig, rasant, ja stellenweise geradezu überbordend geht es zu und her auf dieser zweistöckigen Bühne (endlich mal wieder ein phantasievolles, reichhaltiges Bühnenbild, das nicht nur aus tristen grauen Betonwänden besteht, ebenfalls, wie auch die treffenden Kostüme, von Kirill Serebrennikov entworfen), in einer digitalisierten Welt voller elektronischer Gadgets und Videospielen, wo Ferrando und Guglielmo eine Art Avatare aus dem (vermeintlichen Jenseits) auf die Erde entsenden können, um die Treue ihrer Partnerinnen zu testen, wo sie dank unsichtbarer Kameras die Geschehnisse in der schicken Designerwohnung überwachen. So wirken die Szenen mit den Albanern glaubwürdig, nichts von angeklebten Bärten etc., sondern überaus attraktive, muskulöse und ganz der gegenwärtigen Mode entsprechend sexy tätowierte Männer verführen Fiordiligi und Dorabella, denen man es wahrlich nicht verübeln kann, dass sie schwach werden und sich ihnen hingeben.
Wobei Fiordiligi wortwörtlich mehr unter dem Kreuz leidet, das sie zu tragen hat. Die Inszenierung ist reich ausgestattet mit Ideen, Spiellust, Charakterzeichnung, Komik und spannungsgeladener Emotion. Manch einer der Zuschauer wird sich in den Figuren selbst wieder entdecken. Man lacht, schmunzelt und ist berührt, nicht nur wenn am Ende zu den eingefügten Klängen der DON GIOVANNI Ouvertüre das brutale Experiment ganz gewaltig an die Nieren geht, die Welt für alle Beteiligten zusammenbricht und man nicht so ganz weiss, wie das mit den beiden Paaren überhaupt weitergehen kann. Das Licht (Franck Evin), das wieder aufflackernde Feuer der Kremationen der beiden Soldaten Ferrando und Guglielmo in ihren Gruften und der Zustand der beiden Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs jedenfalls lassen nichts Gutes ahnen. Die dreieinhalb Stunden (inklusive einer Pause) vergehen wie im Flug, man sitzt gebannt im Sessel, als durchaus voyeuristischer Beobachter – denn es geht auch erotisch ganz ordentlich zur Sache – und wird zum Nachdenken über das Wesen der Liebe angeregt, über Verletzbarkeit und Egoismus des Verlangens, über Karussellfahrten der Gefühle.
Selbstverständlich brauchte es zur Umsetzung dieses Konzepts Sängerdarsteller, welche auch vom Äusseren her überzeugend agieren können. Die standen in Zürich nun wahrlich zur Verfügung. Die beiden jungen Frauen Fiordiligi und Dorabella werden von Ruzan Mantashyan und Anna Goryachova umwerfend verkörpert. Hysterisch (Pumps werden schon mal an die Decke gekickt) schlittern sie auf der Achterbahn der Gefühle dahin, mal himmelhoch jauchzend, dann wieder zu Tode betrübt (aber ein Selfie mit der Urne des vermeintlich im Krieg gefallenen Freundes liegt natürlich immer drin). Beide sind mit Körpern gesegnet, die in jeder von Heidi Klums Shows problemlos siegen könnten, machen blendende Figur im (geschlechtergetrennten …) Fitnessstudio der ersten Szenen, in der Wohnküche, auf den Corbusier Liegen, Sesseln und Sofas, in der Luxusboutique beim Shoppen und natürlich in der schwarzen Reizwäsche im Schlafzimmer.
Am Ende werden sie dann erst in der Moschee mit üppiger albanischer Tracht beinahe erdrückt, bevor sie, wenn alles emotional zusammenbricht, im weissen Unterkleid und mit zerzausten Haaren wie Irre herumstehen. Beide singen vortrefflich, stürzen sich mit Emphase kraftvoll in die schwierigen Arien (den hoch artifiziellen Mozartgesang einer Schwarzkopf, einer della Casa, einer Ludwig, mit dem ich gross geworden bin, soll man nicht als Massstab anlegen, und würde auch nicht zu diesem Konzept passen, die Vergangenheit kann man auch mal ruhen lassen …), das ist alles prall, deftig und höchst wirkungsvoll in dieser Grundkonstellation. Despina wird von Rebeca Olvera mit wunderbarer Souplesse gesungen. In ihrem grauen Hosenanzug, der Kurzhaarfrisur, der Brille und dem Notizblock gibt sie die (bestechliche – Money transfer hat funktioniert) Analytikerin, die Psychologin, welche die beiden Schwestern berät, ihnen ihre Weisheiten nur so um die Ohren haut. Sie kennt sich auch mit Bildschirmpräsentationen (von Machismus über My pussy – my rules, zu Femen) bestens aus, und bringt – wenn die beiden Schwestern es gar nicht verstehen wollen – die Chose mit einer Skizze eines Penis auch mal ganz simpel auf den Punkt (Han gli altri ancora tutto quello ch’hanno essi – zu deutsch „andere Männer haben auch einen Schwanz“).
Das Trio der Männer wird vom Bariton Andrei Bondarenko (Guglielmo), vom Tenor Frédéric Antoun (Ferrando) und vom Bariton Michael Nagy (Rollendebut als Don Alfonso) verkörpert und ist an Agilität, darstellerischem Feuer und schönem Singen den drei Damen ebenbürtig. Bondarenko singt mit wunderbar warmer, sehr einnehmender Stimme, Antouns Tenor ist eher dunkel timbriert, strahlt ebenfalls viel Wärme aus, singt mit schöner, biegsamer Phrasierung und schlanker Tongebung. Seine Arie Un aura amorosa, den grossen Hit der Oper, darf er mit Mikrofon (natürlich ausgeschaltet) wie ein Schlagerstar präsentieren, Don Alfonso erledigt die Moderation. Michael Nagy gibt diesen Alfonso als alkoholabhängigen Zyniker, man würde gerne erfahren, welche Ereignisse in seiner Biografie ihn zu einem so menschen-/frauenverachtenden Mann gemacht haben. Darstellerisch und stimmlich zeichnet sich Nagy mit enormer Präsenz aus. Herrlich sexy agieren Francesco Guglielmino (der Schweizer lebte lange in den USA und trat schon in Sex and the City, CSI Miami etc. auf) als Sempronio und David Schwindling als Tizio. Bei den beiden würde wohl manche Frau (und mancher Mann) im Publikum auch schwach werden.
Die Philharmonia Zürich spielte unter der Leitung von Stuttgarts GMD Cornelius Meister einen forschen, draufgängerischen und doch sensibel dosierten Mozart, das klang lustvoll, farbig (wobei die Naturhörner besonders aparte Akzente setzten) und kurzweilig, wie der ganze Abend eben auch.
Wenn am Ende dann Alfonso zur Spraydose greift und mit Riesenlettern COSÌ FAN TUTTE an die Rückwand der Moschee sprayt, kurz innehält, das E am Ende durch ein I ersetzt, dann haben wir alle begriffen: Die Liebe und wie wir damit umgehen, das geht uns alle, Frauen wie Männer, an.
Die Protagonisten traten zum Schlussapplaus mit „Free Kirill“ T-Shirts auf und erinnerten demonstrativ an den schon so lange ohne wirklichen Prozess unter Hausarrest stehenden Regisseur. Es ist ein zutiefst traurig und nachdenklich stimmendes Momentum unserer Zeit, wenn unbequeme Künstler und Journalisten inhaftiert (Russland, Türkei u.a.) oder von den Potentaten (USA) lächerlich gemacht werden.
Kaspar Sannemann5.11.2018
Besonderer Dank für die tollen Bilder an (c) Monika Rittershaus
Kirill Serebrennikov
(c) Oper Stuttgart